Gesetzlos - Roman
schöner und ungewöhnlicher Stock aus hellem lackierten Holz, mit einem verzierten Handknauf, der den Kopf eines Pferds oder Zebras darstellte.) Kaum war er eingetreten, hob er den Zeigefinger der rechten Hand, zog die Augenbrauen hoch, öffnete den Mund und gebot uns, die linke Hand wie zur Abwehr hebend, die Vorstellungsrunde auf später zu verschieben: Er hörte das Arrangement, das soeben begonnen hatte. Es handelte sich um
Maria Elena
, einen planetaren Erfolg, der ungefähr vierzig Jahre zurücklag und damals von zwei indianischen Gitarristen, Los Indios Tabajaros, gespielt worden war. Die Musik war gefällig, mein Arrangement geschickt, man ließ sich treiben. Nach der letzten Note des Stücks richtete Luzbourian – der sehr alt war, älter als, wie soll ich sagen, man üblicherweise unter alt versteht – und, wie ich im weiteren Verlauf des Gesprächs feststellen sollte, sich gern in scherzhafter Manier ausdrückte –, das Wort an mich und sagte:
»
Maria Elena
! Das erinnert mich daran, wie alt ich bin! Nun, erzählen Sie mal, Monsieur …?«
»Archer. Luis Archer.«
Er reichte mir die Hand.
»Alex Luzbourian. Gehen wir in mein Büro, die Anlage dort ist viel besser. Kommen Sie, Luisa.«
Wir gingen hinüber in sein Büro, ein komfortabel eingerichteter Raum, der auf einen ruhigen und sonnigen Hof ging. Wir hörten weitere Stücke, und er sah ebenso sorgfältig wie kompetent, wie man an seinen Fragen und Kommentaren merkte, meine Partituren durch. Da meine Arbeit ihn überzeugte (und er sich von Zeit zu Zeit gern daran erinnerte, wer in diesem Haus das Sagen hatte), war er einverstanden, eine Sammlung zu veröffentlichen und eine Schallplattenaufnahme zu wagen. Nach seiner Einschätzung würde es ein hübscher kleiner Erfolgwerden, nicht mehr und nicht weniger. (Er irrte sich nicht. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass er sich um keine hundert Exemplare irrte, so gut kannte er sein Metier.) Luisa Lum, sichtlich erleichtert, freute sich mit uns. Ihr Lächeln, als ihr Chef uns seine Entscheidung mitteilte, war aufrichtig.
Fügen wir hinzu, dass Alex Luzbourian mich von Anfang an sympathisch fand und schon bald tief ins Herz schloss, denn bis zu seinem Tod, der leider nicht mehr fern war (er sollte Anfang 2000 verscheiden), sah ich ihn mit großer Regelmäßigkeit. Leuten wie mir würde er nur selten begegnen, sagte er eines Tages, als ich in einem indischen Restaurant in der Rue d’Edimbourg mit ihm zu Mittag aß. (Ich verzichte darauf, alle Komplimente wiederzugeben, die er an mich richtete.) (»Und obendrein gutaussehend, ja, sehr gutaussehend!«) Er war ganz frei heraus, vertraute mir sogar an, dass er schon seit Jahren nicht mehr glücklich mit seiner Familie war. Alle, seine beiden Kinder und sogar seine Frau inbegriffen, warteten mit unverhohlener Ungeduld und Gier auf sein (beträchtliches) Erbe. Bis zu seinem neunzigsten Lebensjahr hatten sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht, aber von seinem fünfundneunzigsten Jahr an hatten die freundlichen Gesichter allmählich an Natürlichkeit verloren und wirkten nur noch wie aufgepinselt (»und zwar schlecht aufgepinselt«, fügte Luzbourian hinzu, der jeden Satz mit einem Scherz und einem Lächeln begleitete, einem schelmischen Lächeln, das sein noch echtes, völlig intaktes Gebiss entblößte). Jedenfalls hatte er die Absicht noch mindestens zwei Jahrzehnte zu leben, »allein schon, um sie zu ärgern«, sagte er, nachdem er testamentarisch verfügt hatte, man solle auf sein Grab schreiben: »Dem Hass seiner Angehörigen im Alter von hundertdreiundzwanzig Jahren entrissen«, ein Satz, bei dem ich Maximes Abwesenheit bedauerte. Leider sollten die Umstände nicht erlauben, dass Maxime und Luzbourian sich begegneten, wirklich schade, zumal Luzbourian felsenfest an die Reinkarnation glaubte und auf eine Art und Weise über den Tod sprach, die mich bis in den Wortlaut an Maxime erinnerte.
Kurz – ich kehre zurück zur Rue de Madrid –, meine Bearbeitungen gefielen ihm, ich gefiel ihm, und so verließ ich sein Büro mit der Aussicht auf einen Vertrag innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden.
Dann ging alles sehr schnell. Die Partituren waren fertig, ich kannte die Stücke auswendig und nahm sie Ende ’97 in einem europäischen Qualitätsstudio (das Luzbourian gehörte) auf, dem Studio Jeanne-d’Arc in der Rue Jeanne-d’Arc, und zwar auf einem herrlichen Goodwin-Polmann-Flügel. Im letzten Moment beschloss ich, ein Pseudonym zu
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