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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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der den brüchigen Frieden dieses Maiabends bedrohte.
    Zwei-, dreimal stieg Michel aus seinem Auto, machte ein paar Schritte und setzte sich wieder hinein.
    Er war nicht ganz bei sich, das war ihm durchaus klar. Er war in sich selbst gefangen, er wusste, was er tat, wusste, dass er unrecht tat. Er hätte sich ein solches Verhalten nie zugetraut. Aber das Bedürfnis nach Gewissheit war stärker als alles andere, und er würde Gewissheit erlangen.
    Die Zeit verstrich, langsam und schnell, wie so häufig.
    Hellwach stand er da und wartete, während er mit grausam geschärften Sinnen über sein Leben, seine Arbeit als Maler, sein Schicksal nachdachte.

K APITEL 12
DIE VERGANGENEN JAHRE
    Ich nehme das Leben, wie es geht
.
Robin Ballester,
Maximen
    Da sprach Pantagruel: »Wenn euch die Zeichen schon verdrießen
,
o wieviel mehr erst werdens die Sachen, die sie bedeuten!«

François Rabelais,
Pantagruel

Wie üblich ersetzte eine Sorge die andere. Womit sollte ich, nachdem ich dem Institut Benjamin und dem Lehrerdasein den Rücken gekehrt hatte, meinen Lebensunterhalt verdienen – und was sollte ich mit meinen Tagen anfangen, wenn im September die Welt wieder ihren Betrieb aufnahm und ringsum der gewohnte städtische Irrsinn hereinbrach?
    Würde ich dann müßig mein Klavier durch die Straßen schieben, wie Diogenes seine Tonne?
    Wohl kaum.
    Aber ich würde mich meinem treuen Ernst Maimer-Stutzflügel zuwenden.
    Im Januar ’97 hatte ich angefangen, in systematischerer Weise das zu tun, was ich bislang nur gelegentlich für meine Schülerinnen getan hatte: verschiedene alte oder neuere Lieder aus Frankreich oder anderen Ländern fürs Klavier zu bearbeiten. Maxime hatte mich dazu ermuntert. Ich hatte vollstes Vertrauen in sein musikalisches Urteil, und so wurde er im Laufe des folgenden Sommers, den ich größtenteils bei ihm in Tunis verbrachte, mein erster Zuhörer und Kritiker.
    Als der September kam (ein seltsames Gefühl, nicht am Schulbeginn teilzunehmen), mietete ich mich mehrmals in ein Tonstudio am Boulevard Richard-Lenoir ein, wo ich rund dreißig »Hits« aufnahm, alle von mir für Klavier solo arrangiert. Dann machte ich auf Empfehlung eines alten Freunds vom Konservatorium,Christian Reynald, eines zügellosen Lebemanns (er nutzte die Gelegenheit, mir ein paar handgeschriebene Partituren zurückzugeben, die ich ihm Jahre zuvor geborgt hatte – ach, ihm hatte ich diese Partituren verliehen!), einen Termin mit dem Musikverlag Esmeralda in der Rue de Madrid aus, im Europa-Viertel, das etwa eine Viertelstunde mit dem Auto von mir entfernt lag. Der Verlag Esmeralda gab Noten heraus und verfügte über ein eigenes kleines, aber feines Plattenlabel.
    Nachdem ich mich dank meines Rasierpinsels aus echtem Dachs (und nicht mehr Igel) sanft und äußerst glatt rasiert und mein Haargebäude so gut wie möglich zurechtgelegt hatte und in einen tadellosen grauen Anzug geschlüpft war, begab ich mich zu meinem Termin bei Esmeralda. Ich machte Bekanntschaft mit der Hauptmitarbeiterin des Direktors, einer opulenten, energischen und liebenswürdigen Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie hieß Luisa Lum, und angesichts des hohen Alters von Alex Luzbourian, dem Direktor, der nur zwei- bis dreimal pro Woche in der Rue de Madrid nach dem Rechten sah und seine Geschäfte nur noch aus der Ferne lenkte, kümmerte sie sich um alles. Aus kommerzieller Sicht war Luisa Lum von meinen Arrangements nicht überzeugt. Doch meine Arbeit gefiel ihr schon, dessen war ich mir sicher. Ich beobachtete sie und zog daraus recht schnell den Schluss, dass sie ihre Verwaltungsaufgaben bestimmt ausgezeichnet erfüllte, aber wenig Selbstbewusstsein besaß, ja zurückhaltend war, wenn es darum ging, eine mutige Entscheidung zu treffen, und das, was sie zu hören bekam, war im Vergleich zu Esmeraldas üblicher Produktion tatsächlich eher originell. Am Ende eines Stücks ahnte ich an der Art, wie sie den Kopf hob und mich ansah, dass es gleich heißen würde, nein, bedauere.
    Doch in dem Moment eilten mir Glück und Zufall zur Hilfe. Es klopfte an die Tür und herein kam Alex Luzbourian, der Direktor (und Begründer) des Hauses, der beschlossen hatte, an diesem Nachmittag einmal kurz in der Rue de Madrid hereinzuschneien. Er war klein und schon sehr alt, aber lebhaft und stetszu Scherzen aufgelegt, sein weißes Haar war voll und er hielt sich kerzengerade, dass man meinte, er würde sich aus reiner Koketterie auf den Stock stützen. (Es war tatsächlich ein

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