Gesetzlos - Roman
Präludien der sechs
Englischen Suiten
von Bach spielte, brauchte ich mich außerdem nicht mehr zu schämen und machte mich an die sechs Giguen.
Schließlich fand doch noch ein Abendessen mit Antoine Gusta statt, das ich ihm am Telefon vorschlug. Die Wahl des Orts überließ ich ihm. Ich fand mich in einem Restaurant in Pigalle ein, das auf Meeresfrüchte spezialisiert war. Ich probierte das Tagesgericht und konnte mich erneut davon überzeugen, dass ich nicht gerade verrückt nach Unterwassernahrung war. Der Abend verlief enttäuschend, aber damit hatte ich gerechnet. Wenn er nichtden Inspektor spielte, verlor Gusta seine Qualitäten, insbesondere jene ihm eigene Zweideutigkeit, die ihn beinahe liebenswert machte. Will ich etwa damit sagen, dass er mich im Restaurant wie jemanden betrachtete, den absolut keine Schuld traf, dass er mich wie einen banalen Unschuldigen behandelte und ich darüber in gewisser Weise enttäuscht war? Vielleicht. Wie auch immer. Der Gedanke kam mir, beunruhigte mich einen Moment und war wieder hinfort. In der Nacht, die auf dieses Abendessen folgte, träumte ich mit noch schmerzlicherer Detailliertheit als sonst von Cathys flehendem Gesicht auf ihrem Krankenhausbett und von dem ihres Vaters nach dem Schuss, von seinem Mund, der vor gieriger Erwartung und Entsetzen über den Tod, den er sich selbst gegeben hatte, offen blieb.
In einer weiteren, schlaflosen Nacht (bevor ich in der Stunde, in der der Tag den Dingen ihre von der Nacht geraubte Farbe zurückgibt, eine halbe Schlaftablette einnahm, deren todsichere Wirkung ich bereits erwähnt habe) suchte ich im Netz nach Informationen über Joseph Maynial, Huberts Vater, einem Universitätsprofessor mit weit zurückreichenden spanischen Wurzeln, ein großer Reisender und Spezialist für das europäische und vor allem das spanische Mittelalter, Spezialist für Kommunikationswege, Straßen und Pfade im damaligen Spanien: Von seiner Forscherleidenschaft oder auch seinem Forscherwahn angetrieben hatte er eine Karte der Straßen und Wege in Cordoba und Umgebung angefertigt (die sich gegen Ende des römischen Zeitalters in einem beklagenswerten Zustand befunden hatten und geduldig nivelliert, gewalzt, gehärtet und geschottert werden mussten).
Meine erste Sammlung Alter Musik wurde von drei ausländischen Verlagshäusern gekauft (Spanien, Italien, Belgien). Zwar nur für geringfügige Summen, aber Luzbourian war über den Erfolg seiner neuen Reihe entzückt, mochte es sich auch nur um einen Achtungserfolg handeln, er war stolz auf mich.
Im Verlauf des Jahres ’98 beschlich mich allmählich Angst vor der Zukunft. Diese diffuse Sorge stand noch in keinem direktenZusammenhang mit meinem Einkommen – auch wenn das letzte Werk, das ich im Monat Mai adaptiert hatte, ein (achtteiliges) Lied von Pierre de Manchicourt gewesen war, dessen Titel
Faulte d’argent c’est douleur non pareille
(der mangel an gelt bringet unnsagliches leid) in meinen Ohren wie eine Warnung geklungen hatte. Nein, meine Unzufriedenheit war anderer Natur, und ich sprach am 6. Juni in Saint-Maur mit Maxime darüber (denn solange es keinen absoluten Hinderungsgrund gab, behielten wir die Gewohnheit bei, uns an unserem Geburtstag zu treffen, und sollten dies auch in Zukunft so beibehalten). Der Grund für meine Unzufriedenheit war ehrlich gesagt ganz banal: Kein einziges unvorhergesehenes Projekt unterbrach je die trostlose Verkettung von Ursache und Wirkung, die den Verlauf eines jeden Lebens bestimmt und uns in einem immer größeren, komplexeren und engmaschigeren Netz gefangen hält – in dem wir schließlich ganz aufgehen und uns in nichts auflösen, und zwar ganz ohne dass es dazu einer hungrigen Spinne bedürfte, was wenigstens ein vergnüglicher, wenn auch furchteinflößender Eingriff wäre –, und mir grauste vor der ebenso endlosen wie flüchtigen Ähnlichkeit der Zeit mit sich selbst.
Nun, meine Ängste waren leider nicht unbegründet. Jener, der ich Ende des Jahres ’98 war, der blieb ich auch im Laufe der folgenden Monate und Jahre, die Monate vergingen wie Tage und die Jahre wie Wochen, und so verrannen zehn quälende Jahre wie ein einziges Jahr, verflogen in einem einzigen Augenblick, ohne dass sich irgendetwas änderte.
Und hätte man jemanden, der mich im Jahr 2008 aus dem Haus in der Nummer 49a der Rue des Martyrs und seit einem Jahrzehnt täglich aus diesem Haus hätte kommen sehen, gefragt: »Haben Sie irgendeine Veränderung bemerkt?«, so hätte dieser
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