Gesetzlos - Roman
Unzufriedenheit und meine Sorge, das Projekt realisieren zu können, das mich als einziges wieder hätte aufrichten können: das Tonstudio.
So fühlte ich mich Anfang ’08 nur halbwegs auf dem Damm, einem brüchigen, wackligen Damm, von dem aus sich mir, wenn ich mich so ausdrücken darf, nur wenig verlockende Aussichten boten, wie mir mit dem zeitlichen Abstand immer deutlicher wird — doch das konnte ich vor den wenigen Leuten, mit denen ich mich noch traf, gut verbergen. Selbst Maxime? Ja, vielleicht sogar gerade Maxime. Hätte ich ihm meine wahren Gründe offenbart, wäre dies einem Hilferuf gleichgekommen, also schob ich Überarbeitung, eine damit zusammenhängende Schlaflosigkeit und nicht existente Gefühlsnöte vor. Was die Überarbeitung betraf, war ich an manchen Tagen tatsächlich unfähig, auch nur einen Handschlag zu tun. Sei’s drum, sagte ich mir, dann eben heute Abend. Und wenn es mir am Abend immer noch zu schlecht ging, um zu arbeiten, stellte ich eine umfassende To-do-Liste für den folgenden Tag auf. Am folgenden Tag war es dasselbe, und am Abend des folgenden Tagesrechnete ich mir aus, wie viel Zeit mir noch bliebe, bevor ich die kritische Grenze erreichte.
Das Wort »Verwahrlosung« wäre eine unangemessene, geradezu lächerliche Bezeichnung für die Situation, in der ich mich damals befand, dennoch fließt es mir aus der Feder und gleichwohl ich ihm seine Schärfe nehmen möchte, versperre ich ihm doch nicht den Weg (genauso wie sich mir manchmal alberne, übertriebene Bilder des Elends aufdrängten – wir alle lassen gelegentlich solche Bilder zu –, auf denen ich mich im tiefsten kalten Winter, vor Kälte bibbernd an einer Straßenecke stehen sah, mit bleichem und ausgemergeltem Gesicht, die linke Hand am Kragen eines löchrigen Überziehers und die Rechte den Passanten entgegengestreckt).
Die Ärzte hatten Maxime versichert, dass sich sein harmloses Herzleiden nicht weiter verschlimmern würde. Wenn er sich einer jährlichen Kontrolluntersuchung und einer leichten Behandlung unterzog (sowie auf alle kosmonautischen Aktivitäten verzichtete – an jedem 10. September versetzte ihm der Gedanke an die verpasste Reise ins All einen kleinen Stich), konnte Maxime sein gewohntes Leben weiterführen.
Was mich angeht, stand es in Sachen Gesundheit … aber kaum erscheinen die Worte »was mich angeht« auf dem Papier, erinnere ich mich – oder aber ich erinnere mich eben nicht mehr – an ein Bonmot von Maxime – nein, ich habe es vergessen. (Vielleicht: »Ich hätte mich nie in das einmischen sollen, was mich etwas angeht«? Vielleicht, ich weiß es nicht mehr, vielleicht erfinde ich das jetzt auch nur.) Es war Weihnachten ’07, im Verlauf einer Unterhaltung, die ich mir auch nicht gemerkt habe, machte er einen Scherz, irgendein Wortspiel, ganz gleich, aber mir war der ernste und nicht wie sonst schalkhafte Ton aufgefallen, mit dem er es gesagt hatte, als würde ein verborgener Sinn in dem Wortspiel liegen, ein Sinn, den er als einziger verstehen konnte und der ihn, der sein Leben betraf – natürlich, hatte ich mir gesagt,sein verborgenes Leben –, darum ist diese Erinnerung mit solcher Mühe zurückgekehrt und hat auf so geheimnisvolle Weise auf sich aufmerksam gemacht, um einen Platz in der Erzählung zu ergattern.
Er sprach nie wieder mit mir über sein Testament. Weil er die Angelegenheit geregelt hatte? Das war anzunehmen.
In Sachen Gesundheit war es, wie gesagt, bestens um mich bestellt, ich fühlte mich stark und beweglich, kräftig und fit, so wie ich mich seit jeher gefühlt hatte, geschmeidige Gelenke, feinste Qualität von Fleisch und Blut, nirgends ein im Verborgenen waltendes Übel, das das Sein durch das Sein erstickte, intakte graue Substanz, die gut geschützt im Mittelhirn gelagert war und nach deren Pfeife mein motorisches System tanzte, mit einem Wort, ich veränderte mich nicht. Nicht die geringste Gewichtszunahme? Nein, im Gegenteil, die Sorgen, die an mir zehrten und mich bedrücken, sollten mich innerhalb von zehn Jahren um einen knappes Kilo erleichtern. Auch meine Haare blieben unverändert. (Nur an einer anderen behaarten Stelle hatte ein Haar, ein einzelnes Haar, angefangen weiß zu wachsen, das war, glaube ich, im Verlauf des Jahres ’05.)
Am 6. Juni ’06 schenkte ich Maxime, neben anderen Geburtstagsgeschenken, zum Spaß einen schönen Cowboyhut. Allerdings war er in diesem Jahr auf dieselbe Idee gekommen: So tauschten wir lachend unsere Hüte
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