Gesetzlos - Roman
wählen: So kamen die Platte und die Partituren im Februar ’98 unter dem Namen Marc Michel heraus.
Diese Tätigkeit als Arrangeur bereits existierender Stücke wurde zu meinem neuen Beruf und sollte es lange Zeit auch bleiben. Ich ging meiner Arbeit mit Interesse nach, und manchmal – wenn sich mir scheinbar unüberwindliche Hürden in den Weg stellten, deren Meisterung mir tiefe Befriedigung verschaffte – sogar mit Leidenschaft. Die Verkaufszahlen im Laufe des Jahres ’98 entsprachen den Vorhersagen, sprich, bescheiden aber regelmäßig, und Luzbourian war zufrieden, was mir viel bedeutete. Ich erfuhr, dass die Käufer vorwiegend junge Musiker waren, die elektronische Klaviere besaßen und sich für die Interpretation der Stücke die gewünschte Klangfarbe aussuchen konnten – und zwar, bis auf wenige Ausnahmen, nicht die Klangfarbe des klassischen Klaviers, na ja, ihr Pech.
Im März sah ich Christian Reynald, meinen weltgewandten Freund wieder, der mir so dankenswerter Weise den Verlag Esmeralda ans Herz gelegt hatte. Ein paar Wochen traf ich mich mehr oder weniger regelmäßig und ohne sonderliche Begeisterung mit ihm, aber ich musste schließlich jemanden treffen, nun, da ich nicht mehr unterrichtete und nicht mehr in den Genuss der so lebendigen und erfrischenden Gesellschaft meiner Schülerinnen kam. Auf einer Party bei ihm begegnete ich einem klassischen Gitarristen, der über eine gewisse Bekanntheit verfügte,Reginald Drarège, ein gutaussehender Mann, der etwas jünger war als ich. Das Gitarrenrepertoire wäre ohne Transkriptionen von der Laute, der Vihuela, der Violine, dem Cello, dem Cembalo, dem Klavier, ja von so ziemlich allen anderen Instrumenten, ziemlich dünn, und die Probleme, die das Adaptieren eines Musikstücks von einem Instrument für das andere aufwarfen, verwickelten uns in ein langes Gespräch.
Eines Abends gingen Drarège und ich in ein Konzert von Murray Perahia im Saal Gaveau. Am Ende des Konzerts erblickte ich in der Menge – Pergament-Gesicht und rabenschwarzes Haar, ungewöhnlicher Polizist und großer Virtuose am Steuer (was für eine überwältigende Fahrt zwischen Paris und Versailles!) – ohne Begleitung und mit aschfahler Miene: Antoine Gusta. Auch er sah mich. Ich ging auf ihn zu und wir schwatzten eine Weile. Ich erzählte ihm von meiner neuen Beschäftigung, wagte aber nicht (wahrscheinlich, weil ich es nicht wirklich wünschte), ihm ein Treffen bei anderer Gelegenheit anzubieten, ein Angebot, das er meines Erachtens nur zu gern angenommen hätte, und so gingen wir mit einem bloß dahingesagten und eher traurigen »dann vielleicht bis zum nächsten Konzert« auseinander.
Dann begab ich mich wieder zu Reginald Drarège. Es war noch nicht spät, er lud mich ein, in seiner Wohnung in Montmartre seine vielen Instrumente anzusehen. Meine Gitarrenkenntnisse verblüfften ihn. Ich erzählte ihm von meinen Anfängen als Musiker, als Gitarrist, von meinen spanischen Wurzeln, dem Flamencogesang, den ich in meiner Kindheit gehört hatte, von den alten Platten und knisternden Plattenspielern, von Perfecto, meinem Großvater mütterlicherseits, der Bergarbeiter in Cuevas, Andalusien, und ein guter Gitarrist gewesen war und zu Gesang und Tanz spielen konnte.
Reginald ließ mich seine sieben Gitarren ausprobieren. Auf einer wagte ich mich an den Anfang des Walzers
Angostura
von Antonio Lauro, und zack, schon bei der ersten Hürde in Takt 13 erlitt ich Schiffbruch und gab auf. Er spielte mir eine seiner Transkriptionenvor, die er von einem anonymen Stück aus dem 16. Jahrhundert angefertigt hatte, einem Klassiker aus dem Repertoire der Cembalisten,
My Lady Carey’s Dump
(»Die Klage der Frau Carey«, wobei
Dump
ein Stück melancholischen Charakters, eine Art Lamento bezeichnete.) Doch leider, so gut Reginald auch spielte (und er spielte wirklich sehr gut), verhinderte die Stimmung der Gitarre, dass man das obstinate Motiv der Bässe durchgehend hören konnte, was dem Stück einen Teil seines Schwungs nahm. Da kam mir der sowohl simple als auch kühne Gedanke: einfach drei Saiten der Gitarre zu verstimmen (die dritte zu Fis, die vierte zu E und die fünfte zu H), sodass man sie die meiste Zeit im Leerlauf anschlagen konnte, was einerseits ermöglichte, die Bässe ohne Unterbrechung zu spielen, und andererseits, da die linke Hand nun freier war, die Gesangsstimme auf der ersten und zweiten Saite so schnell zu spielen wie man wollte. Reginald probierte es aus. Das Ergebnis war
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