Gesetzlos - Roman
Axel wusste, dass sie darunter litt, mehr als sie zugab. Er hatte schon oft die Wirkkraft seines betörenden Blicks an ihr erprobt, jene Gabe, mit der er (im Fall von Personen, die er gut kannte, auch aus der Entfernung) den Geist beruhigen, Sorgen vertreiben und, wenn er es für nötig befand, die Gedanken seinem wohlgesinnten Willen unterwerfen konnte.
Er hatte keine Neuigkeiten für Renata. Er lebte allein. Einzelkind, keine Geschwister, keine Gefährtin und wenig Freunde, vor allem seit er in Rente war. Dabei hatte das Ansehen seines Amts einst viele Frauen angezogen. Aber er hatte keine einzige von ihnen geliebt – bis auf Christina, die im Übrigen nichts von seinen Aktivitäten wusste – und wenn man nach den wenigen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, überhaupt von Liebe sprechen konnte – aber Axel war schon der Ansicht. Ihm war, als hätte Christina allen Männern, die ihre Gunst erfleht hatten, diese auch gewährt, was ihn verwunderte, denn diese junge melancholische Frau war ausgesprochen schön – und zu seiner noch größeren Verwunderung war er der Erwählte eines Abends gewesen. Er hatte versucht, sie wiederzusehen, doch vergeblich. Ihre hellgrünen Augen hatte er nie vergessen.
Er hatte sie nie vergessen.
Renata reichte ihm ein Handtuch:
»Hier, zum Abtrocknen.«
Er trocknete sich Fuß und Wade ab.
Renata rückte ihren Sessel heran und setzte sich im Profil zu Axel, damit er das Bein auf ihre Schenkel legen konnte. Während sie mit der linken Hand den Knöchel umfasst hielt, begann sie mitder rechten behutsame kleine Kreise entlang des lädierten Fußes zu beschreiben, langsam und gleichmäßig, mit allmählich zunehmendem Druck, jedoch ohne eine gewisse Schmerzschwelle zu überschreiten, ohne die in Mitleidenschaft gezogenen Bänder allzu grob zu behandeln, als wollte sie sie davon überzeugen, sich einem wohltuenden Zwang zu unterwerfen und wieder ihren Platz einzunehmen.
Sie fuhr fort, mit Axel zu plaudern, und schenkte dabei ihren Handgriffen keinerlei Beachtung.
Nach drei bis vier Minuten hörte sie auf und sagte, so, sie sei fertig. Axel zog seinen Strumpf wieder an, krempelte sein Hosenbein herunter und stand auf. Er spürte nur noch einen diffusen, sehr erträglich gewordenen Schmerz, der durch die Bewegung eher noch gelindert wurde. Natürlich hätte er zur Militärklinik gehen können, eine Spritze hätte dieselbe Wirkung gehabt – nein, eben nicht dieselbe Wirkung, er zog Renatas Behandlung jeder anderen vor: Nachdem sie ihn mit Praktiken aus einer anderen Zeit von dem Schmerz befreit hatte, durchströmte ihn ein allgemeines Wohlempfinden, ein tiefer Frieden, der dem entsprach, was sie empfand, wenn Axel ihr minutenlang tief in die Augen blickte und sie den Sinn seiner kontinuierlich gesprochenen Worte nicht mehr wahrnahm, sondern nur noch von ihrer Musik eingelullt wurde.
Sie hatte sich stets um ihn gekümmert, wenn er sich wehgetan hatte, schon seit seiner Kindheit. Und auch später hatte er ihr seinen Körper weiter anvertraut, und sei es auch nur, um beispielsweise vor oder nach einer Mission die Verspannungen und die Müdigkeit aus den Muskeln zu vertreiben. Renata dürfte die letzte auf ihrem kleinen Planeten sein, die diese Kunst noch beherrschte. Sie übte sie nur bei Axel aus, denn seit langer Zeit erwartete sonst niemand mehr etwas von ihr. Und Axel war wiederum der letzte, der seine Kunst beherrschte, die wundersam tröstende Verschmelzung der Blicke, und er übte sie nur noch an Renata aus, denn auch von ihm verlangte schon seit Langemkeiner mehr irgendetwas. Hatten ihresgleichen woanders Ruhe, Vergebung und Heilung gefunden? Das leider nicht! Im Laufe der Jahrzehnte hatten sie sich mit ihrer grenzenlosen Verzweiflung abgefunden.
Er küsste Renata auf die Stirn und brachte die Schüssel voll Wasser wieder in die Küche.
Kaum war er zu seinem Auto zurückgekehrt, klingelte auch schon sein Telefon. Überraschung, es war Kommandant Rafi. Seitdem Axel in Rente war, rief Rafi ihn vier- oder fünfmal pro Jahr an, reine Höflichkeitsanrufe. Aber sein letzter Anruf lag nicht einmal eine Woche zurück. »Er braucht mich also und will mich sehen«, dachte Axel bei sich.
Genau so war es. Axel ging auf den Vorschlag des Kommandanten, sich zu treffen, ein.
Bevor er losfuhr, hörte er aus der Ferne eine Straßenfanfare.
Was würde man von ihm verlangen? Er hatte schon immer geahnt, dass er bei der Rente nur deshalb so bevorzugt behandelt wurde (denn in
Weitere Kostenlose Bücher