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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Zögern um Hilfe zu bitten. Am kommenden Samstag, während des Abendessens oder nach
The Narrow Margin
würde ich ihm meine Pläne für die nahe Zukunft unterbreiten und ihm erklären, welche Rolle er darin spielen könne, wenn ihm der Sinn danach stand.
    Die Woche verging. Je näher der Samstag rückte, desto unruhiger wurde ich.
    Bereits Montagfrüh rief ich Madame Duchand an.
    Aber als ich am Samstag, den 24. Mai – einem trüben, dunklen, verregneten Tag –, um fünfzehn Uhr vor der Nummer 3 der Impasse du Midi gegenüber von der kleinen Gittertür des Parks parkte und sah, dass mein Freund nicht wie verabredet dort stand und auf sein Cordoba-Armband zeigend oder mit dem Cowboyhutauf dem Kopf auf mich wartete, beschlich mich eine böse Vorahnung.
    Ich stieg aus dem Auto und schlug die Tür hinter mir zu.
    In der Ferne bellte ein Hund. Ein anderer antwortete, und bald gaben sich die beiden Tiere einem langen Geheul in unterschiedlichen Tonhöhen hin, in die sich schmerzlich-komische Modulationen mischten.
    Ich überquerte den Bürgersteig und drückte die Gittertür auf.

K APITEL 13
DER STERBENDE PLANET
    Die Gestirne machen die Melodie, die Natur unter dem Monde
tanzt nach den Gesetzmäßigkeiten dieser Melodie
.
Johannes Kepler,
Harmonices Mundi
    Mein Spiel versteckt in der Erinnerung ans Ich
einst ausgesetzt den schlecht verheilten Vers
Tümmlungen durch mörderische Lese allen Schutts
der Handlung welcher am Sternenzelt verstreut
.
Robin Ballester,
Drei-Vers
(Dichtungen VI)
    (»Ich heiße Axel«, so stellte sich Axel der göttlichen Clara zunächst vor, damit sie von den wenig vertrauten Klängen seiner Muttersprache, die rauer und hässlicher klang als der schlimmste Erdendialekt, nicht verschreckt wurde. (Aber vier Tage später vertraute er ihr seinen wahren Namen an: Er »hieß«
Stkouspr
– vorausgesetzt man kann die unregelmäßige Schwingung, die durch das Schnarrwerk einer Theorbe entsteht, wenn man sie anstößt und reibt anstatt sie mit einem glatten, harten Fingernagel zu spielen (eine Schwingung, die zwei lange Sekunden durch Claras Hirn brummte) als Namen bezeichnen, dann hieß Axel
Stkouspr
.) Im Übrigen hatte Axel nicht nur seinen Namen (und die anderen Namen und Dialoge zwischen den Figuren), sondern auch alles andere, was er Clara über sein Leben und sein Auftrag enthüllen sollte, übersetzt, transkribiert, transformiert, adaptiert, sodass sie ihn mühelos und ohne Furcht verstehen konnte.
    Auf diesen (dank Clara überlieferten) Bericht von Axel und auf alle unbekannten Ereignisse, die sie und ich noch rekonstruieren sollten – und zwar mithilfe unserer Vorstellungskraft und Phantasie, dabei aber stets den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit folgend, denn ebenso wie man von wirklich beobachteten Folgen ausgehend die versteckten Ursachen in plausibler Weise beschreiben kann, verließen wir uns stets nur auf das, was Clara mit eigenen Augen gesehen oder aus Axels Mund vernommen hatte – auf Axels Bericht habe ich mich alsogestützt, um die Geschichte von
Stkouspr
nachzuzeichnen, die ich – »heute«! – dem Leser präsentiere.)
    Am Nachmittag des 11. Mai ’08 (oder, nach irdischer Zeitrechnung, des 20. Mai) fuhr Vize-Kommandant Axel in seinem grauen kugelförmigen Wagen eine der vierundzwanzig großen Avenuen der Hauptstadt entlang.
    Die Sonne wirkte ebenfalls grau, gelblich grau in einem grauen Himmel, vor dem sich die graue Unermesslichkeit des Häusermeers abzeichnete.
    Die Bürgersteige waren wie ausgestorben. Im Laufe der Jahre gingen die Leute immer seltener auf die Straße, das war unübersehbar. Als verlören sie die Lust am Himmel und am Licht oder als reduziere sich ihre Zahl? Beide Phänomene waren zutreffend. Zwar gab es tatsächlich weniger Geburten, aber die eigentliche Katastrophe hing mit einem rätselhaften und besorgniserregenden Verlust der Lebensfreude zusammen (wie die zahllosen Selbstmorde belegten, die die Bevölkerung einer ganzen Stadt genauso todsicher auslöschen konnte wie einst die Cholera).
    Es blieb nur eine Hoffnung: Man wusste, was zu tun war – doch bislang war man immer gescheitert …
    Axel bog nach rechts in die zwölfte mittlere Avenue, die Avenue Renata. Er fuhr immer weiter geradeaus. Eine langweilige Strecke. Alle Strecken waren langweilig. Er träumte von einer Welt, die weniger quadratisch und weniger grau wäre. Welche dunkle und unbesiegbare Macht hatte nur dafür gesorgt, dass alles so quadratisch war und das Grau sich

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