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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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und gefährlich gewesen. Niemand, er nicht mehr als ein anderer, war vor der Verurteilung zum Tode gefeit.
    Die Ampel schaltet auf Grün.
    In wenigen Minuten würde Axel die Hauptstraße erblicken, sich dann der Ballung militärischer Einrichtungen nähern – und dann, nach einer Viertelstunde über Rolltreppen (was für eine Freude, die Füße frei bewegen zu können!), in Fahrstühlen und vorbei an diversen Kontrollposten – und nachdem er seinen Anzugzurechtgezupft hatte, um die Falten glattzustreichen und sich zu vergewissern, dass seine vier Medaillen auf dem linken Revers des Sakkos hübsch an ihrem Platz waren – würde er Rafi gegenübertreten. Das Büro war ein weißer, riesiger Würfel, der sich zusammenzuziehen schien, als Rafi aufstand, um Axel zu begrüßen, so groß und massig war der Kommandant in seiner dunkelgrauen Uniform, so schwarz vor Bart und Behaarung, und von so zahlreichen Bewegungen erfüllt, mit Armen, die gen Himmel oder zu Boden gereckt wurden, mit überdimensionierten Schritten nach rechts oder links, und mit seiner inneren Unruhe, die von einer Donnerstimme begleitet wurde.
    Er war einen Kopf größer als Axel. Er schloss ihn in die Arme, legte für einen Augenblick die Wange an seine und ließ ihn dann wieder los.
    »Setz dich, Axel, setz dich! Du hast dich überhaupt nicht verändert, unglaublich! Deine Augen noch weniger als der Rest! Was für ein Blick!«
    Und du, was für ein Getue!, dachte Axel bei sich. Ja, er will mich tatsächlich um etwas bitten …
    Er nahm Platz.
    »Du bist es, der sich nicht verändert hat. Du wirst höchstens jünger!«
    »Zu liebenswürdig. Zu liebenswürdig, dass du so tust, als würde man nicht sehen, dass diese schöne schwarze Farbe unecht ist …«
    Die beiden Männer hatten sich lange nicht gesehen, seit der Beförderungsfeier von Romain nicht mehr. Sie hatten sich als junge Männer kennengelernt, an der Universität, wo sie ihre gemeinsamen Vorlieben und ihre gemeinsame Berufung entdeckt hatten. Axel war in den meisten Fächern besser als Rafi gewesen. Selbst wenn es nie sein Wunsch gewesen war, hätte er problemlos an Rafis Stelle sein können – aber seit jeher galt, dass die Besten nicht die Ersten waren, sondern die Zweiten oder die Letzten oder Sklaven oder sie wurden ausgelöscht.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Rafi.
    »Alles in Ordnung. Bin überrascht über deinen Anruf. Überrascht und glücklich.«
    Wenn man überleben wollte, musste man schon heucheln können, zumindest ein bisschen. Heuchelei war hier für alle zur zweiten Natur geworden, Heuchelei und Lüge.
    »Und deine Memoiren?«
    »Kommen voran. Viel Arbeit, und viel Freude.«
    »Keine Exekutionen in deinem Umfeld?«
    Rafi zögerte den Moment hinaus, an dem er das wahre Thema ihres Treffens anschneiden würde, stellte Axel fest. Vielleicht gefiel es ihm, Axel hinzuhalten? Der Kommandant war manchmal nicht ganz frei von kindischen Anwandlungen, beileibe nicht.
    »Nein. Aber wie du weißt, ist mein Umfeld inzwischen sehr eingeschränkt. Ich bin häufig allein, oder in meinem Büro. Ach übrigens, Rafi … Kurz bevor ich hierher gekommen bin, bin ich Zeuge einer Exekution vor einem Kinoeingang geworden, und da kam mir ein Gedanke …« (Er log:) »Zum ersten Mal in meinem Leben, stell dir vor. Da wir doch versuchen, gegen unser Aussterben anzukämpfen … ach wenn es nur in unserer Macht stünde, die Zahl der Exekutionen zu reduzieren! Irgendwann kommt der Tag, an dem das alles zählt …«
    Axel wusste, dass er vergeblich redete, aber er fühlte sich erleichtert. Mit Kühnheit hatte dies allerdings nichts zu tun. Er wusste, dass er kein Risiko einging. Die Tradition war so mächtig, dass Rafi nie irgendjemanden im Verdacht gehabt hätte (und Gott weiß, wie argwöhnisch er war), die Rechtmäßigkeit der Tötungen infrage zu stellen. Obwohl er stets so berechnend und zynisch wie ein Machtmensch handelte, konnte er sich dem Erbe der Vergangenheit mit seiner ganzen erdrückenden Last selbst nicht entziehen. Eine Reduzierung der Exekutionen hätte ihn vom moralischen Standpunkt her schockiert und, davon war er überzeugt, sie hätte auch Axel schockiert (der im Geiste erst seit seiner Rente gegen das unnötige Töten auf begehrt hatte).
    Axels Bemerkung fügte sich daher ganz natürlich in die Unterhaltung ein.
    »Du hast Recht«, antwortete Rafi. »Aber …«
    »Ich weiß. Es kommt nicht in Frage.«
    »Einerseits nicht. Doch andererseits …«
    Rafi war ein nervöser, hektischer

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