Gesetzlos - Roman
gegenüber den anderen Farben durchgesetzt hatte? Und welche andere Macht hatte bewirkt, dass er, Axel
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, mit dem Leben stärker verbunden war als seinesgleichen oder dass er sich mit seinen bald siebenundfünfzig Jahren den ungebrochenen Wunsch bewahrt hatte, es eines Tages in seiner ganzen Fülle auszukosten, und sei es auch nur für kurze Zeit?
Mühelos fand er einen Parkplatz vor der Nummer 1945 der Avenue. Es war nicht nötig, sich im Park unter dem Wohnhaus einzugraben. Vorsichtig stieg er aus dem Auto. Sein rechter Fuß wurde immer schmerzhafter, er konnte kaum auftreten.
Das Haus war für Leute, die die Achtzig überschritten hatten. Die Fassade war sauber, aber nicht gerade heiter. Axel hatte Renata häufig vorgeschlagen, in ein anderes Haus zu ziehen. Aber sie hing zu sehr an ihrer Wohnung, sie hatte darin ihren Sohn und ihre Tochter aufgezogen und wäre unglücklich gewesen, sie zu verlassen. Und wo hätte sie auch hingehen sollen? War Axels weitläufiges und luxuriöses Vorstadthaus wirklich fröhlicher, gab es in dieser Hauptstadt oder in den anderen Städten auf diesem gleichförmigen, grauen, quadratischen Planeten, auf dem alle in allen Regionen dieselbe schroffe Sprache sprachen, überhaupt attraktive Häuser, in denen man gern lebte?
Es schien ganz so, als hätten Quadratisch und Grau einen unauflöslichen Pakt mit Monoton und Traurig geschlossen.
Axel, ein kleinwüchsiger »Mann«, bekleidet mit einem schönen grau-blauen Anzug, den er stets trug, wenn er zu Renata ging, überquerte leicht hinkend den Bürgersteig. Sein wenig anmutiges Gesicht verzog sich vor Schmerz. Die ohnehin schon groben Züge, die Lippen, die Augenlider, das Kinn wirkten dadurch noch gröber, als unterstriche die Grimasse ihre Plumpheit, ja als stellte sie sie gewissermaßen zur Schau. Wettgemacht wurde sie einzig durch sein schönes schlohweißes Haar und seine blauen, tiefen, betörenden Augen.
Weit und breit keiner zu sehen, nirgendwo. Die Avenue wirkte unendlich verlassen.
Er stellte sich so in den Fahrstuhl, dass er den kaputten Fuß schonte: das Körpergewicht auf den linken Fuß verlagert und die linke Schulter gegen den Spiegel gelehnt.
Zwölfter Stock. Glücklicherweise war die Wohnungsnummer42 nicht weit weg. Er läutete. Eine Frau, etwas größer als er, korpulent und sehr alt, machte ihm auf.
Renata Salomone war eine Freundin von Axels Familie, von seiner Mutter, die sie in den letzten leidvollen Jahren ihres Lebens liebevoll unterstützt hatte. Axel hatte sie immer als korpulente Frau in Erinnerung gehabt, wie die Frauen des Südens es häufig sind. Aber vor allem hatte er sie lange mit schwarzer Haarpracht gekannt und sich niemals ganz an den Anblick ihrer weißen Haare gewöhnt.
Sie umarmten sich voller Elan, mit liebevollem Blick, streichelten sich über die Schulter, lächelte sich an (das Lächeln schmeichelte Axels Äußerem auch nicht mehr als zuvor die Grimasse). Dann half Renata Axel ins Wohnzimmer, einem großen quadratischen Raum, an dessen Wänden viele Fotografien hingen.
»Setz dich. Was hast du denn für einen Schmerz?«, fragte sie mit ruhiger, heller Stimme, verblüffend hell, der Stimme einer jungen Frau.
»Es tut seit gestern weh. Ich kann mich nicht daran erinnern, mir den Knöchel verstaucht zu haben, und auch nicht, den Fuß überlastet zu haben. Ein Rätsel.«
Erleichtert setzte er sich in einen der drei Sessel im Wohnzimmer gegenüber einer großen Glasfront, durch die man glücklicherweise nicht die anderen Häuser sehen konnte, sondern nur den Himmel. Renate ging in die Küche, um eine große Plastikschüssel und einen Kessel heißes Wasser zu holen, dessen Inhalt sie in die Schüssel goss. Sie war stark und geschickt.
»Hier, ich habe alles vorbereitet«, sagte sie.
»Danke, Renata. Es ist mir peinlich, dass ich dir nicht helfen kann.« Er zog seinen Strumpf aus und krempelte das Hosenbein hoch.
»Sag, wenn es zu heiß ist.«
Axel tauchte erst einen Zeh ins Wasser, dann den ganzen Fuß. Nein, es war perfekt, nicht zu heiß, genau richtig, sodass die entspannendeWirkung des von ihr hinzugefügten Salzes sich ganz entfalten konnte.
Während sich seine Muskeln, Bänder und die Haut im warmen Wasser mit dem Badesalz von allen Anspannungen lösten, erzählte Renata das Neueste von ihren Kindern und ihren Enkeln, die sie für ihren Geschmack zu selten sah (denn Gleichgültigkeit und Undankbarkeit gehörten ebenfalls zu den Übeln, die auf ihrem Planeten grassierten).
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