Gesetzlos - Roman
allerlei exquisite Köstlichkeiten in die Säle getragen. Dann verwandelte sich die Abendgesellschaft für alle, die es wünschten (mit anderen Worten: wenige) in einen Ball.
Gegen ein Uhr dreißig brachen die ersten Gäste auf. Clara hätte sich ihnen gern angeschlossen. Die Langeweile war nicht der einzige Grund. Sie war von einer gewissen Traurigkeit erfüllt (die Pipelares Champagner nicht hatte vertreiben können). Einen Grund für diese Traurigkeit kannte sie: Unterwegs hatte sie kurzvor La-Celle-les-Bordes die Schilder von Gometz-la-Ville und von Gometz-le-Châtel gesehen. Auch wenn das von ihren Angehörigen erlittene (und ungesühnt gebliebene) Verbrechen noch vor ihrer Geburt lag, schlichen sich bisweilen die Schatten dieser verhängnisvollen Vergangenheit auf perfide Weise in die zarten Mäandern ihres Denkens ein und schlugen ihr aufs Gemüt.
Auch Vincent hatte genug. So beschlossen sie aufzubrechen, nachdem sie sich gegenseitig versichert hatten, dass Höflichkeit und Anstand gegenüber dem Gastgeber ihnen nicht geboten, noch länger zu bleiben.
Sie standen auf der riesigen Freitreppe, im hellen Scheinwerferlicht. Erleichtert lächelten sie sich an. Der Sturm wurde immer stärker. Claras langes Haar wehte im Wind.
»Bravo, ich beglückwünsche uns«, sagte Vincent. »Wir haben zwei Stunden gewonnen. Daher nun mein Vorschlag, der, wie ich dir versichere, ganz spontan kommt: Wie wäre es, wenn wir kurz zu mir fahren würden? Ich hätte dir so viele Dinge zu zeigen. Und für dich liegt es fast auf dem Weg.«
Vincent wohnte in einem kleinen Haus im 20. Arrondissement in der Passage de la Duée (einem schmalen Straßenabschnitt, der die Rue de la Duée mit der Rue Pixérécourt verband).
Der Vorschlag missfiel Clara nicht. Sie war noch nicht müde und hatte keine Lust, jetzt allein zu sein. Außerdem kannte sie Vincent gut genug, um sicher zu sein, dass sie sich zu nichts verpflichtete, wenn sie seine Einladung annahm. Ihr Lächeln wurde noch breiter und entblößte nicht mehr als nötig ein Stückchen vom Zahnfleisch über der oberen Zahnreihe (wie Vincent erneut bemerkte), sodass die anbetungswürdige Schönheit dieses Lächelns an Vollkommenheit grenzte.
»Kommt ganz drauf an, wie man den Stadtplan liest«, sagte sie. »Aber, man kann schon der Ansicht sei, dass es auf meinem Weg liegt …«
Sie begaben sich zu ihren Autos.
Michel hatte sie auf die Freitreppe des Schlosses hinaustreten sehen.
Wo war Mireille Bel?
Er folgte ihnen mit dem Blick.
Sie stiegen jeder in ihr Auto und verließen den Park, Clara fuhr hinter Vincent her.
Sie schliefen also nicht bei Mathieu Pipelare. Wo fuhr Clara hin? Nach Saint-Maur oder zu Vincent? Oder würden Sie in einem Pariser Café noch etwas trinken, bevor jeder zu sich nach Hause fuhr?
Es kam nicht in Frage, ihnen in diesem menschenleeren Vorort zu folgen.
Michel fuhr los, entfernte sich von Pipelares Schloss und raste nach Saint-Maur, über einen Weg, den er sich zuvor herausgesucht hatte.
In Saint-Maur setzte er sich in den großen Raum im Erdgeschoss und wartete.
Er wartete bis drei Uhr morgens.
Immer stärker zog ihn der Abgrund der Einsamkeit an, er erstickte an dem Wunsch und der Angst hineinzustürzen.
Gegen drei Uhr stieg er hinauf in sein Atelier und betrachtete sein neuestes noch unvollendetes Gemälde, das eine Erde ohne Erde unter einem Himmel ohne Himmel darstellte und Bäume oder Büsche, die keine waren. Aber wenn man es genau betrachtete, konnte man auch zu dem Schluss kommen, dass das Werk vollendet war, sagte er sich. Das Zögern gehörte vielleicht dazu. Wenn er wollte, konnte er es so lassen. Nie zuvor hatte er eine solche Ungewissheit angesichts eines Gemäldes empfunden.
Dann ging er in sein Schlafzimmer und legte sich aufs Bett, ohne die Fensterläden zu schließen, denn er war sich sicher, nicht schlafen zu können, und blieb reglos liegen, von gierigen Albträumen umzingelt, die auf das kleinste Anzeichen von Müdigkeit lauerten. Seine Gedanken überschlugen sich und wurden immer verworrener, bis sie über die Schwelle seiner Lippen kamen under anfing laute Selbstgespräche zu führen: »Ist dies wirklich der Moment? Ja, ich will sterben!« Er fragte sich nicht, warum ihn dieser gewaltige Wunsch erfüllte, er wusste nur noch von seinem Kummer. Allein der Schmerz, der reine Schmerz verlieh seinen Worten Gestalt.
Szenen aus der Vergangenheit, die sich weigerten, im Käfig der Erinnerungen zu bleiben und daraus entschlüpft
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