Gesetzlos - Roman
Trampelpfad, den man von der Rue de la Duée aus über eine kleine Treppe erreichte), in einem winzigen alten Haus mit dicken Mauern, das Vincent von seiner Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte (und das er über und über mit Spiegeln behängt hatte, um es optisch zu vergrößern). Sie hatten sich unterhalten, Musik gehört – vor allem ein
Präludium und Fuge
für Orgel von Bach, das Clara zwar kannte, jedoch nicht in der luftigen Interpretation von François-Henri Houbart, die Vincent ihr vorgespielt hatte. Das zarte, ätherische, einlullende Mittelstück der Fuge war ein Klangkokon, das man nicht mehr verlassen wollte – eine solche Musik hätte zwei Menschen, die eine zärtliche Zuneigung entwickelt hatten, einander näherbringen können – aber hatte Clara eine zärtliche Zuneigung für Vincent entwickelt? Nein, darüber war sie sich in dieser Nacht ganz klar geworden. Bei der Musik hatte sie im Gegenteil sogar den Eindruck, dass diese dreiunddreißig himmlischen Taktein der Mitte der Fuge in h-Moll BWV 544 (Manualstimmen, ganz ohne Pedal), von François-Henri Houbart auf der Bernard Hurvy-Orgel der Abtei Achel zärtlich dargereicht, sie von ihrem wunderbaren, untadeligen Gefährten eher noch entfernt hatte.
Um drei Uhr morgens entzog sie sich schließlich einem leisen Vorstoß, der im Übrigen der diskreteste war, den ein Mann jemals gegenüber einer Frau gewagt hatte, von der Art nämlich, dass ein fast unmerkliches Zur-Seite-Neigen des Kopfes genügte, um denjenigen aufzuhalten, der sich voller Zartgefühl und Sanftmut ihren Lippen genähert hatte. Das winzige Unbehagen, das sich zwischen ihnen eingestellt hatte, kaum dass sie das schmale Haus betreten hatten, wurde dadurch allerdings nicht verstärkt, sondern auf der Stelle verscheucht, und nach einer Stunde mit Gesprächen, Gelächter und Musik führte Vincent Clara in das kleine Gästezimmer mit dem Kinderbett und dem Waschraum (man konnte sich darin nur einseifen, wenn man die Arme eng am Körper hielt, warnte er sie) und einem blankpolierten Spiegel, der von einem in die Wand eingebauten Schrank ablenkte, in dem Clara ihre Sachen auf hängte, bevor sie vorsichtshalber duschte und vier Stunden lang splitternackt, wie es ihre Gewohnheit war, in dem Kinderbett verbrachte, vier Stunden, die auf die Sekunde genau von ihrem unschuldigen Schlaf ausgefüllt wurden.
Als sie friedlich und entspannt aufwachte, war Vincent seit einer halben Stunde wach und hatte ein festliches Frühstück aufgetischt.
»Hat dich das Gewitter nicht geweckt?«
»Nein! Hat es gewittert?«
Nachdem sie voller Appetit und guter Laune gegessen und getrunken hatten, schenkte Vincent Clara einen weißen Seidenschal, der von einem spanischen Meister entworfen worden war, entworfen und signiert, und der ihn ein Vermögen gekostet hatte.
»Ich habe ihn seit rund zehn Tagen«, sagte er. »Ich habe auf den richtigen Moment gewartet. Gestern Abend passte es nicht. Heute Morgen schon.«
»Das ist zuviel!«, sagte Clara erstaunt und gerührt. »Das ist zuviel«, wiederholte sie, als sie ihn sich um die Schultern legte.
Es war in der Tat zuviel, sowohl angesichts ihrer Beziehung als auch angesichts der Finanzen von Vincent, den Claras »das ist zu viel« peinlich berührt hatte. Jetzt, da er darüber nachdachte, fand er sich kindisch und ungelenk. Er zog sich aus der Affäre, indem er (der sie so gern zum Lachen brachte) sagte, ja, sie habe Recht, das Geschenk sei zu kostspielig, er habe zwischen diesem Schal und einem langgestreckten italienischen Sportwagen geschwankt, sich aber in letzter Sekunde erinnert (er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn), dass sie kleine Stadtautos lieber mochte, und im Übrigen könne sie ihm den Schal jederzeit zurückgeben, wenn es ihr unangenehm war, er würde ihn problemlos verkaufen können und nicht viel drauflegen müssen, um dieses oder jenes Ding zu erwerben, usw., er zählte eine Reihe unbezahlbarer Gegenstände auf: Dank seiner Beifall heischenden, theatralischen Gestik und Mimik – ein Talent, das sich bei seinem Musikerberuf auszahlte –, gelang es Vincent, die Situation durch einen improvisierten Sketch zu retten. Clara brach kurze Zeit später auf, nachdem sie ihm tausendfach gedankt und ihn kräftig auf beide Wangen geküsst hatte, beglückt, einen so großartigen Freund zu haben.
»Und, was macht das Aufnahmeprojekt?«
»Es ist auf bestem Wege. Bainchoy will, also wird er auch.«
»Ein gute Nachricht. Trinkst du einen Kaffee
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