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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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mit mir?«
    »Ja, danke. Es war ein langweiliger Abend, aber voller guter Perspektiven. Wie schade, dass Mireille nicht dabei war!«
    »Sie war nicht da?«
    »Nein. Sie war nicht ganz auf dem Damm, die Arme. Aber nichts Schlimmes. Und deine Vernissage?«
    »Das Übliche. Ein Umtrunk zu Beginn des Abends, ein paar Leute lassen es sich munden, nicht jedoch dein alter Onkel, der Wasser jedem anderen Getränk vorzieht. Eine Rede des Kulturattachéesvon Garches, immer dieselbe, er tauscht bloß den Namen des Malers aus. Und Abendessen im
Fil de l’eau
: totale Langeweile. Den einzigen Anlass zur Freude boten die Bilder von Marc Martin. Ich bin stolz, sein Lehrer gewesen zu sein. Schließlich bin ich so früh wie möglich nach Hause gefahren, habe gearbeitet und dann geschlafen. Wenig und schlecht, das Gewitter hat mich geweckt.«
    »Ich habe auch wenig geschlafen. Aber tief und fest, wie ein Baby.«
    Sie standen nebeneinander in der Küche, Michel bereitete Kaffee zu, er war beinahe beruhigt, beinahe von seinen Ängsten befreit.
    »Nicht weiter erstaunlich, du bist ja auch ein Baby. Habt ihr eigentlich bei deinem Agenten übernachtet?«
    Der Satz war ihm rausgerutscht.
    Der Teufel persönlich hatte ihm diese Worte eingeflüstert, sagte er sich wütend. Zu spät, sie zurückzunehmen war unmöglich. Hatte der eidbrüchige Michel, der ihm bereits eine höllische Nacht bereitet hatte, eben nicht versucht, Clara beim Lügen zu ertappen, ja gar in der Hoffnung, sie würde lügen und auf diese Weise die Ängste der Nacht wieder entfachen – während er, Michel, sehr wohl wusste, dass sie zur Lüge unfähig war und die Wahrheit sagen würde, dass nichts passiert war?
    Die Frage hatte Clara für einen Augenblick verwirrt, und noch mehr der Ton ihres Onkels, einen Ton, den sie gar nicht an ihm kannte. Mit ruhiger Stimme erklärte sie, wo sie geschlafen hatte und warum, und beschrieb das Puppenhaus, in dem Vincent lebte.
    Diese halbe Sekunde der Befremdung hatte Michel (den eidbrüchigen) erschreckt. Bedeutete die kurze Veränderung von Claras Gesichtsausdruck nicht womöglich … nein, er klammerte sich an die Vorstellung, dass es auf keinen Fall so sein konnte. Seine Frage, die niemals hätte gestellt werden dürfen, hatte sie überrascht, weiter nichts.
    Sie fuhren in ihrer Unterhaltung fort. Aber etwas hatte sich verändert. Zum ersten Mal in ihrem Leben mit Michel hatte Clara ein böser Verdacht beschlichen, der tiefer und ärger war als sie zunächst angenommen hätte – das wurde ihr bei der katastrophalen Wendung, die sich eine Stunde später ereignen sollte, bewusst.
    Nach dem Kaffee stieg Michel voller Wut auf sich selbst hinauf in sein Atelier – und betrachtete sein letztes Gemälde, wobei er sich, ohne eine Antwort zu finden, fragte, ob er weiter den Pinsel anlegen sollte. Die Zeit verstrich. Er konnte sich auf nichts konzentrieren.
    Clara räumte ihren herrlichen neuen Schal zu den anderen Schals. Dann rief sie Mireille an (der es tatsächlich besser ging, wie immer am Tag nach dem ersten Tag, und die sich freute, sie mittags zu sehen) und spielte den Klavierauszug aus den Suiten von Bach, den die beiden Freundinnen seit drei Wochen, samstags zwischen zwölf und fünfzehn Uhr probten.
    Um elf Uhr zwanzig Uhr ging sie hinunter und traf auf Michel.
    »Ich gehe los«, sagte sie.
    »Ich wollte gerade die Post holen«, sagte Michel.
    Sie gingen gemeinsam hinaus. Das Wetter war beklemmend trüb. Nie zuvor war an einem 24. Mai eines beliebigen Jahres ein so wehmütiges Licht in ihren schönen Park gefallen.
    Sie kamen an die beiden nebeneinander geparkten Autos.
    Clara öffnete die Tür ihres Autos. Sie beugte sich vor, um ihre Handtasche, die Partituren mit handschriftlichen Notizen und zwei Tief kühl-Mahlzeiten auf den Beifahrersitz zu legen. Dann richtete sie sich wieder auf, wandte sich um – und erblickte auf dem grauen Fußabtreter in Michels Audi, fast schon unter dem Fahrersitz, ein verwelktes Blatt von Mathieu Pipelares Ahorn.
    Sie hatte die fünf spitzen Lappen und den dünnen schwarzen Rand sofort wiedererkannt.
    Ohne nachzudenken öffnete sie die Tür des Audis, nahm das Blatt in die Hand und ging auf Michel zu, um es ihm zu zeigen, ganz naiv, als wollte sie ihre Verwunderung mit ihm teilen.
    Und plötzlich begriff sie. Plötzlich begriff sie alles. Michels Blick und sein erstarrtes Schweigen bestätigten es ihr in grausamer Weise. Und Michel erkannte in dem Blick seiner Nichte, dass sie begriffen hatte und

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