Gesetzlos - Roman
waren, verfolgten und marterten ihn, andere hingegen, auf die er gern zurückgegriffen hätte, blieben unerreichbar in der hintersten Ecke zusammengekauert.
Die Gegenwart floh vor ihm.
Um fünf Uhr morgens wurde der Wind noch stürmischer, und um fünf Uhr dreißig Uhr brach ein heftiges Gewitter los, innerhalb kürzester Zeit ging über Saint-Maur eine Sintflut nieder. Eine halbe Stunde später hörte der Regen auf und hinterließ einen schwarzen wolkenverhangenen Himmel, und um sechs Uhr morgens versuchte die unter Nebeln vergrabene Sonne aufzugehen, doch sie verhedderte sich gleich wieder in den vielen Wolken, die sie erstickten und Jagd auf die wenigen Himmelsabschnitte machten, die sich tapfer blau färbten.
Am Fenster stand Michel, wandte die Augen von diesem Anblick eines Tages ohne Tag ab und kehrte zurück in sein Bett.
Wie sollte er es in Angriff nehmen? Es würde ganz einfach sein. Auf dem Dachboden befand sich eine Armee-Pistole mit großkalibrigen Kugeln, die sein Vater Albin auf bewahrt hatte. Beim Umzug nach Saint-Maur hatte Michel die Waffe selbst in einer verschlossenen Tasche versteckt.
Wo und wann? Woanders. Er konnte es Clara nicht antun … er stand auf, legte sich wieder hin und schlief diesmal sofort ein.
Trotz der bösen Träume fühlte er sich etwas ruhiger, als er um acht Uhr aufwachte. Er ermahnte sich selbst, sich aus diesem krankhaften, absurden und beschämenden Zustand zu befreien. Er wusch sich und ging wie jeden Morgen zum Frühstück in die Küche, dort frühstückte er am liebsten.
Samstags waren keine Hausangestellten da. Besser so.
Während er die große Schale Milchkaffee, die er sich zubereitet hatte, austrank, dachte er in weniger drastischer Weise über die weitere Abfolge der Ereignisse nach. Erste Möglichkeit: Clara käme heute Morgen nach Hause. Entweder würde er (vielleicht) feststellen, dass zwischen ihr und Vincent nichts vorgefallen war (das war immerhin möglich, durchaus möglich), oder aber er würde (vielleicht – aber klar, da war er sich ganz sicher) auf den ersten Blick sehen, dass seine Nichte … dann würde er seine letzten geistigen Kräfte zusammenklauben und sie seinem nächtlichen Feind zwischen die Beine werfen, der tagsüber geschwächt war und somit zu Fall gebracht wurde. Und während der sich aufrappelte, hätte Michel seinen Vorsprung genutzt. Er würde fünfzehn Uhr erreichen, die Zeit, um die er an der Métrostation Nation mit Muriel verabredet war, und Muriels Gesellschaft würde ihm helfen durchzuhalten.
Zweite Möglichkeit, jene, die er im Moment am meisten fürchtete: Clara würde an diesem Morgen nicht nach Hause zurückkehren. Ein ganzer Tag des Wartens nach dieser Nacht. Wie sollte er das ertragen?
Er hatte nicht einmal mehr Lust, Muriel zu sehen.
Aber um zehn Uhr hörte er ein Motorengeräusch. Drei Schritte und er stand am Fenster seines Ateliers, von dem aus er sehen konnte, wie Clara ihren Austin an der üblichen Stelle, neben dem Audi parkte, aus dem Wagen stieg, mit ihrem ebenso bedächtigen wie selbstsicheren Gang übers nasse Gras lief, den Blick auf den Boden gerichtet, um die Pfützen zu umgehen, wodurch ihr das Haar übers Gesicht fiel, es beinahe verbarg.
Innerhalb nur weniger Sekunden fasste Michel wieder Mut und lief seiner Nichte entgegen, die ihm von Weitem zurief:
»Du meine Güte, hier ist ja was runtergekommen!«
»Ja, unglaublich! Um fünf Uhr. Ich habe noch nie ein so heftiges Gewitter über Saint-Maur gesehen.«
»Der Himmel ist immer noch dunkel«, sagte Clara.
»Ja. Aber was für ein herrliches Kleid du anhast! Was für ein Grün, und wie gut es dir steht! Zum Glück bist du da, um die Welt über den Verlust der Sonne hinwegzutrösten …«
Michel, der eine eher robuste Natur hatte und selbst gut angezogen war, Bart und Haare waren sorgfältig gekämmt, sah nicht aus, als hätte er eine schlaflose, qualvolle Nacht verbracht.
Clara kam an die Treppe. Sie umarmten sich.
»Welche andere Nichte hat einen Onkel, der ihr solche Komplimente macht?«, sagte sie.
»Keine«, sagte Michel, »darauf kannst du Gift nehmen.«
Er beobachtete sie.
Seiner Einschätzung nach war es eher nein. Er würde später sehen, aber im Moment war es eher nein.
Er war sogar sicher, dass es nein war. Er kannte Clara zu gut, sie hätte ein anderes Gesicht gemacht.
Und es war tatsächlich nein. Vincent und Clara hatten den Abend als Freunde in der Passage de la Duée beendet (einem zwei Meter breiten Durchgang, einem
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