Gesetzlos - Roman
von nun an alles wusste über die vergangene Nacht und über ihr Leben mit ihm.
In den zwanzig Sekunden, in denen die Tür im Park von La Celle-les-Bordes offen gestanden hatte, hatte ein Windstoß das welke Blatt vom Zweig gelöst und dorthin geweht, wo Clara es gefunden hatte, und Michel hatte nicht darauf geachtet.
Was konnte er Clara noch sagen? Nichts, weder die hässliche Wahrheit, noch die hässliche Lüge. Es gab nichts zu sagen, sie waren beide unfähig zu sprechen. Clara ließ das Blatt zu Boden fallen. Es gelang ihnen, noch für einen Moment den Schein zu wahren, sich einen Kuss auf die Wange zu geben und ein kaum hörbares »Auf Wiedersehen« zu murmeln. Dies war der letzte Kuss, den sie sich gaben. Und gleich darauf, als Clara vom Auto aus einen Blick auf Michels Verzweiflung warf, war es der letzte Blick, den sie tauschten.
Während Clara zu Mireille fuhr, überwogen Wut, Ekel und Angst bei Weitem den Kummer, den Clara trotz allem für ihren Onkel empfand. Genau wie gewisse Krankheiten jahrzehntelang in einem schlummern und dann eines Tages mit Gewalt zum Ausbruch kommen, war das unsichtbare Übel, das seit ihrer Geburt auf sie lauerte, ihr jäh erschienen, hatte sich auf sie gestürzt und sie in Stücke gerissen. Sie wurde von dem unwiderstehlichen Drang gepackt zu fliehen, der tödlichen Gefahr durch Flucht zu entkommen. Sie stellte sich vor, wie sie in ein Flugzeug steigen, niemandem Bescheid geben und sich weit fort, am anderen Ende der Welt verstecken würde …
Der realere Wunsch, sich Mireille anzuvertrauen, gab ihr ein wenig Halt. Der Wunsch. Und die Möglichkeit. Sie ahnte, dass Mireille eine verlässliche und wohlwollende Freundin war. Nochnie hatte sie so ein Bedürfnis verspürt, sich bei ihren Freundinnen auszuschütten. Aber dann? Wie sollte sie nach Saint-Maur zurückkehren, Michel wiedersehen, so fassungslos und verwirrt wie sie war? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Würde Mireille sie bei sich aufnehmen? Ja, ganz bestimmt. Aber wollte sie wirklich bei Mireille bleiben? Und, wenn sie darüber nachdachte, wollte sie sich ihr überhaupt anvertrauen?
Plötzlich wusste sie nichts mehr, gar nichts mehr.
Oder aber … nachdem sie sich von Mireille verabschiedet hatte, ging sie nicht ihr Auto aus dem Parkhaus holen. An der Place de l’Opéra nahm sie sich ein Taxi und ließ sich zur Gare de Lyon bringen. Dort stieg sie in einen Zug und fuhr zu Alma Perez ins Hinterland von Cagnes-sur-Mer.
Sie träumte davon, sich von Alma in die Arme schließen zu lassen und endlos zu weinen.
Die unglückliche Clara war verloren. Gern wäre sie nicht mehr dagewesen, wäre vor Verdruss, Verunsicherung, Verzweiflung verschwunden, der Gedanke, dass Michel und sie sich nie von diesem Tag erholen würden, war niederschmetternd.
Michel sagte sich im selben Moment genau dasselbe. Er würde sich jedenfalls nicht davon erholen. Aber Clara auch nicht, wenn er ihr keinen Raum zum Leben ließe, wenn er sie nicht aus ihrer Gefangenschaft befreite.
Der letzte Blick seiner Nichte hatte ihn vernichtet. Er hatte keine andere Wahl, als zu sterben.
So packte er ein paar Sachen zusammen, Fotos, Briefe, von denen er nicht wollte, dass sie ihn überdauerten, und verbrannte sie im Park, neben seinem Auto. Während das Feuer knisterte, fiel Michel wieder das belastende Beweisstück ein, das Ahornblatt, er hielt danach Ausschau, fand es gleich (man sah nur dieses Blatt am Boden) und warf es ebenfalls in die Flammen.
Er räumte ein wenig in seinem Atelier auf.
Dann signierte er das unvollendete oder vollendete Gemälde.
Auf dem Dachboden musste er sich einen Weg durch die vielen gegen die Wand gelehnten, manchmal übereinander gelegten Portraits von Clara bahnen. Er unterdrückte ein Schluchzen. Er öffnete die Tasche, die unter der größten Dachluke stand, und holte Albins Pistole aus dem schwarzen Lederetui.
Als er zurück im Erdgeschoss war, nahm er sie auseinander, putzte sie, obwohl sie ihm sauber und glänzend erschien, und baute sie wieder zusammen. Es gab keinen Grund, warum sie nicht wie am ersten Tag funktionieren sollte.
Dann setzte er sich an den Marmortisch neben der Fenstertür, die zum Park ging, und schrieb einen Brief an Clara (der Brief wird im folgenden Kapitel abgedruckt).
Nach einem unsinnigen, absurden Zögern (in welchem Moment sollte seine Nichte es erfahren?) traf er seine Entscheidung und brachte den Brief mit vier Reißzwecken an der Tür an, von der aus man über die Treppe in den Park
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