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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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gelangte und die im Sommer häufig offenstand.
    Er trank noch einen Kaffee, eine ganze Schale.
    Er trug eine dünne graue Lederjacke, die wegen der schweren Pistole in der linken Innentasche unförmige Falten schlug.
    Von da an war Michel seiner nicht mehr Herr.
    Ihm fiel eine kleine Bucht auf einer Insel in der Seine ein, die Île des Chats, zu der sein Vater ihn als Kind immer zum Spielen mitgenommen hatte, mit dem Auto nicht weit von der Avenue Foch.
    Hoffentlich war dort noch alles so wie früher!
    An dem Ort wollte er sterben.
    Wie besinnungslos verließ er das Haus, ohne die Tür hinter sich zu schließen, stieg in den Audi und fuhr los.
    Als er in Paris den Étoile erreichte, bog er in die Avenue Foch. Er warf einen Blick auf die Nummer 26, in dem sich sein Geburtshaus befand.
    Er durchquerte den Bois de Boulogne, fuhr dann die Seine entlang und parkte am Quai Michelet.
    Eine schmale Brücke und eine verwunschene Treppe führten ihn ans Ende der Île des Chats.
    Bestimmte Orte in Städten verändern sich nicht, sondern bleiben wie durch ein Wunder intakt, trotz der Veränderungen, denen ihre Umgebung unterzogen wird. Nach fünf Minuten Fußmarsch erreichte Michel die winzige Bucht am Ende eines geheimen, verborgenen Pfades, sie war noch genau so, wie er sie in Erinnerung hatte.
    Es war niemand da, genau wie damals, als er mit seinem Vater Albin hierher kam.
    Er war allein.
    Um fünfzehn Uhr, genau um die Zeit, da er an Muriels Tür hätte klingeln sollen, steckte er sich den Lauf der Pistole in den Mund und ließ sich langsam ins Wasser gleiten.
    Der letzte Gedanke, der ihn erfüllte, war der an Marie Dubost.
    Das Wasser benetzte seinen dichten Bart, die Stille ringsumher schien angesichts des bevorstehenden Lärms die Luft anzuhalten.
    Er schloss die Augen und drückte ab.

K APITEL 15
DIE PFORTEN DES TODES
    Nimm, was dein ist, und gehe hin!

Matthäus, 20,14
    Ich empfand jenes schmerzliche Bedürfnis, nach Hause zu gehen,
das einen manchmal überkommt, wenn man in der Wohnung
einen geliebten Kranken zurückgelassen hat und man nun
plötzlich ein Vorgefühl hat, als könnte er kränker werden
.
Maupassant,
Der Horla

War es meine Angst, die von Sekunde zu Sekunde schneeballartig anwuchs und sich in eine Lawine voll dunkler Vorahnungen verwandelte? Jedenfalls wirkte die Farbe der Rotbuchen im Park auf mich grell, aggressiv, als hätte irgendein Vandale sie kurz vor meiner Ankunft frisch gestrichen – und die horizontalen Linien der Louis-XVI-Fassade wirkten auf mich unmenschlich und nicht mehr beruhigend, als wären sie plötzlich zu gerade, zu parallel, zu symmetrisch.
    Ich stieg die Treppe hinauf und klingelte an der massiven Tür. Keine Antwort. Ich hob den Blick zum ersten Stock, niemand da. Maxime erschien nicht am Fenster, wo ich ihn gern mit den Worten hätte erscheinen sehen: »Ich war ganz in Gedanken verloren«, oder: »Meine Uhr ist stehen geblieben«, oder auch: »Telefon, unaufschiebbarer Anruf, haha!«, oder tausend andere Erklärungen, die die grausam dröhnende Stille aus meinen Ohren verscheucht hätten.
    Also drückte ich die kupferne Türklinke hinunter. Die Tür öffnete sich. Zögernd trat ich ein. Der große Raum im Erdgeschoss war menschenleer.
    Ich rief seinen Namen, zunächst mit normaler Stimme (mit »normal« meine ich die Dezibel, nicht die Angst, die meine Stimmritze austrocknete und die klanglichen Schwingungen veränderte), dann lauter, wobei ich mit der Gewissheit auf die Treppe zusteuerte (zumindest nehme ich das an), dass ich nichtseine Stimme mit dem warmen Timbre hören würde, die mir als Antwort irgendeinen dummen Witz aus dem oberen Stock zurufen würde.
    Ich kletterte die Stufen hinauf.
    Im ersten Stockwerk rief ich erneut: »Maxime! Maxime?«, doch vergeblich.
    Ich stieß die Tür zu dem kleinen Salon auf – mit der Angst, der Vorahnung, der Eingebung, der Gewissheit, dort auf das Übel zu treffen …
    Und tatsächlich.
    Um meine wahnwitzigen Gedanken zu verspotten und sie zunichte zu machen, hatte sich Maxime sechs Tage zuvor die mörderischste aller Hypothesen ausgedacht – aber damit er sie äußern konnte, durfte diese Hypothese nicht auf eine völlig realitätsferne Möglichkeit gründen, wie hier nun deutlich wurde! Wie mir hier nun auf grausamste Weise vor Augen geführt wurde!
    Einmal mehr wurde mir ein Anblick zugemutet, den kein Auge ertragen kann.
    Plötzlich sah ich mich wieder die Rue des Fleurs entlangschlendern (die hübsche Rue des Fleurs, in der

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