Gesichter der Nacht
Lockvogel spielen«, sagte der Jamaikaner.
Marlowe nickte, und der alte Mann schüttelte
energisch den Kopf. »Das ist der reine Wahnsinn. Bei Nacht sind
Sie in Barford nicht sicher. Monaghan und seine Schläger warten
bestimmt auf eine Gelegenheit, Sie in einer dunklen Gasse
abzupassen.«
Marlowe grinste. »Darum geht es ja.
Die ganze Bande wird sich auf mich konzentrieren und sich
überlegen, was ich in Barford mache. Wahrscheinlich brauchen sie
soviel Zeit dafür, eine Antwort auf diese Frage zu finden,
daß sie nicht einmal tätlich werden.«
»Und nur darum fahren Sie hin?« fragte Maria, die Augen starr auf ihn gerichtet.
»Ja, warum denn sonst?« antwortete
Marlowe. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke, und dann drehte
er sich um und sagte: »Kommen Sie, Mac. Wir müssen
nachsehen, ob mit dem Lastwagen alles in Ordnung ist, und wir
müssen ihn laden für Ihre große Fahrt.« Sie
verließen gemeinsam das Zimmer, und Marlowe merkte, daß ihm
das Mädchen mit brennenden Augen nachblickte.
Marias Frage war natürlich völlig
berechtigt. Es gab noch einen anderen Grund dafür, daß er
sich mit Jenny O'Connor treffen wollte, und sie hatte das intuitiv
erraten. Als Marlowe an diesem Abend auf dem Marktplatz in Barford aus
dem Bus stieg, sah er sich in der Schaufensterscheibe eines
Geschäfts, und er schüttelte den Kopf und kam zu dem
Schluß, daß er die Frauen nie begreifen würde.
Maria hatte den Tweedanzug, den er bei seiner
Entlassung aus Wandsworth bekommen hatte, sorgfältig
ausgebürstet und geplättet, und sein Hemd war strahlend
weiß und frisch gebügelt. Der Anzug sah gar nicht schlecht
aus, fand Marlowe. Immerhin war er nach Maß gefertigt und
paßte.
Als er den Bürgersteig entlangging,
schlug eine Kirchenglokke die volle Stunde, und er warf einen Blick auf
seine Armbanduhr. Es war sieben. Um acht würde Mac nach London
aufbrechen. Marlowe blickte zum Himmel auf und dachte, daß es bis
dahin wohl dunkel genug war. Er hatte keine Schwierigkeiten, Jennys
Adresse zu finden. Es handelte sich um eine Wohnung in einer Anlage aus
umgebauten ehemaligen Stallungen mit einem kleinen Hof, nicht weit vom
Platz entfernt. Die Blumenkästen waren leuchtend rot gestrichen,
und ein paar Gewächse blühten noch darin. Er drückte die
Klingel, blickte um sich, wartete. Jennys Wagen war nirgendwo zu sehen,
und er lauschte mit gefurchter Stirn an der Wohnungstür,
hörte nichts und fragte sich, ob er sich in der Adresse geirrt
hatte.
Als er in seine Tasche langte, um den Zettel zu
suchen, hörte er Schritte, und die Wohnungstür öffnete
sich. Jenny stand vor ihm und lächelte ihn an. Sie trug ein langes
rotes Hauskleid aus schwerer Seide, und ihr Haar schimmerte. Sie trat
einen Schritt zurück. »Kommen Sie herein, Mr. Marlowe. Sie
sind ein bißchen früh dran.«
Und nun führte sie ihn durch einen Flur mit
Eichenholztäfelung in ein schönes Zimmer. Rosa Teppichboden
und indirekte Beleuchtung, die die Wände in derselben Farbe
tönte. Ein großes Feuer loderte im Kamin, und die
Vorhänge waren zugezogen – üppiger Samt – und
schlossen den Raum von der Außenwelt ab. Sie forderte ihn mit
einer Handbewegung auf, in einem bequemen Sessel Platz zu nehmen, und
ging zur Hausbar, um zwei Drinks aus einem Shaker einzugießen.
»Die hatte ich schon gemixt«, sagte sie, als sie ihm sein
Glas reichte. »Martinis. Ich hoffe, Sie mögen das.«
Marlowe nickte. »Einer meiner
Lieblingsdrinks.« Er trank einen Schluck, lehnte sich im Sessel
zurück und beobachtete Jenny.
Sie machte es sich auf einem kleinen Sofa
gemütlich, das zum Sessel paßte, und lächelte.
»Wir haben keine Eile«, sagte sie. »Ich habe zwei
Plätze in einem Restaurant bestellt, das ich gut kenne ein paar
Kilometer außerhalb von Barford. Leider ist etwas mit dem Wagen
nicht in Ordnung. Die Leute von der Werkstatt haben ihn mitgenommen.
Ist aber nichts Schlimmes. Sie haben mir versprochen, daß sie's
in einer Stunde repariert haben.«
Marlowe nickte und bot ihr eine Zigarette an.
»So ein Pech.« Er ließ sich wieder in den Sessel
sinken und fügte lächelnd hinzu: »Aber ich will mich
nicht beklagen. Hier gefällt es mir auch. Die Wohnung ist sehr
schön.«
Jenny nickte und stand auf, um ihm
nachzuschenken. »Ich mag schöne Dinge«, sagte sie.
»Ich fühle mich wohl, wenn ich schöne Dinge um mich
habe. Das Leben kann so öde sein.«
»Das Problem ist, daß schöne Dinge
viel Geld kosten«,
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