Gesichter der Nacht
sagte er, als sie mit seinem Drink
zurückkam.
Sie lächelte. »Oh, ich weiß nicht.
Einiges ist immer noch erschwinglich.« Sie knipste einen Schalter
neben dem Kamin aus, und der Raum war plötzlich in Halbdunkel
getaucht. »Feuerschein zum Beispiel.« Sie machte es sich
wieder auf dem Sofa gemütlich. »Das gehört zu den
wenigen Dingen, die sich nicht geändert haben.«
Marlowe war verdutzt. »Geändert?« fragte er.
»Ja, im Vergleich zu früher.« Sie
bettete den Kopf in ihre Armbeuge wie ein kleines Mädchen und
wandte sich dem Feuer zu. Ihre Augen schimmerten wie Bernstein.
»Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich an
Herbstnachmittagen um vier mit meinem Vater immer Tee in seiner
Bibliothek getrunken. Es war eine Wonne. Ich habe mich immer darauf
gefreut. Ein wunderhübscher Raum, überall Bücher, und im
Kamin brannte ein großes Feuer. Das Dienstmädchen hat Tee
und Gebäck serviert, und mein Vater hat mich die Gastgeberin
spielen lassen.« Sie lachte leise. »Ich habe das alles so
gern angefaßt – die silberne Teekanne und die schönen
Porzellantassen… Es hatte etwas Intimes, wenn draußen vor
den hohen Fenstern die Blätter fielen und drinnen in der
Bibliothek die Schatten länger wurden.« Sie schauderte
zusammen, und in ihrer Stimme lag eine tiefe Traurigkeit. Marlowe
äußerte sich nicht. Einen Augenblick herrschte Schweigen,
und dann sagte Jenny rasch: »Aber das ist lange her. Das war vor
der Sintflut.«
Marlowe runzelte die Stirn. Er verstand nicht ganz. »Was ist passiert?« fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Mein Vater hat sein
ganzes Geld verloren. Hat sich in irgendeinen Schwindel hineinziehen
lassen.« Sie zögerte. Dann sagte sie knapp: »Er hat
sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.«
»Das tut mir leid«, sagte Marlowe. »Das muß ein Schock für Sie gewesen sein.«
Sie lächelte, zog die Schultern hoch. »Wenn
man in einem reichen Haus aufgewachsen ist, hat man nur ein Problem:
Man findet es unmöglich, ohne Geld auszukommen. Das heißt,
man muß nach einer Lösung suchen, und die kann manchmal
recht unerfreulich sein.«
Das Bild wurde allmählich ein wenig klarer.
»Und Sie haben eine Lösung gefunden?« fragte Marlowe.
Jenny lächelte wehmütig. »Sowas
fällt einem nicht in den Schoß. Was meinen Sie, wie alt ich
bin, Mr. Marlowe?«
Er zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Achtzehn? Neunzehn?«
Sie lachte. »Ich werde nächsten Monat
achtundzwanzig. Mit siebzehn habe ich einen reichen Mann geheiratet,
weil ich Sicherheit wollte. Er hat mir zehn Jahre lang das Leben zur
Hölle gemacht. Er war untreu, hat getrunken, und wenn ihm gerade
der Sinn danach stand, hat er mich auch geschlagen. Ich bin bei ihm
geblieben, weil ich nicht den Mut hatte, ihn zu verlassen und mein
eigenes Leben zu leben. Als er voriges Jahr bei einem Autounfall starb,
dachte ich, jetzt wäre ich frei. Aber er hat leider nur Schulden
hinterlassen.«
»Und da hat O'Connor eingegriffen?« fragte Marlowe.
Sie nickte. »Genau. Er ist der Halbbruder meines
Vaters. Ich wußte sehr wenig von ihm. Ich glaube, er ist als
junger Mann in einen Skandal verwickelt worden und mußte von zu
Hause weggehen. Er hat vor sechs Monaten Verbindung zu mir aufgenommen
und mir das Angebot gemacht, für mich zu sorgen.«
»Und Sie haben das Angebot akzeptiert«, sagte Marlowe.
Sie zog die Schultern hoch. »Ja
– warum nicht? Ich bin ein schwacher Mensch.« Sie deutete
auf den Raum. »Er ist nett zu mir. Und irgendwie auch stolz auf
mich. Es gefällt ihm, wenn die Leute wissen, daß ich seine
Nichte bin. Ich nehme an, er sucht jetzt, als reicher Mann, eine
gewisse Respektabilität.« »Sind Sie
glücklich?« fragte Marlowe.
Sie lächelte traurig. »Heißt es nicht
in der Bibel, daß wir für unsere Schwachheit
büßen müssen, Mr. Marlowe?« Sie lachte seltsam
und nahm sich eine Zigarette aus einem silbernen Kästchen, das auf
einem kleinen Tisch neben dem Sofa stand. »Ich habe alles, was
ich will. Alles. Ich fühle mich eben nur hin und wieder einsam. So
furchtbar einsam.«
Sie starrten sich eine Weile an, und Marlowe bekam
wieder einen trockenen Mund. Im Feuerschein sah er Jennys Gesicht. Sie
hatte Tränen in den Augen. Und dann fiel ihr die Zigarette aus der
Hand, und sie verzog das Gesicht wie ein kleines Kind. »So
einsam«, wiederholte sie. »So furchtbar einsam.«
Marlowe stand auf. Eine Gewalt, die stärker war
als er, hatte ihn gepackt. In seinen
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