Gesichter der Nacht
daß es wahr ist. Du findest uns in der
Garvald-Mühle, knapp sechs Ki lometer außerhalb von Litton.
Ist ein kleines Stück seitab von der Straße nach Birmingham.
Wenn du nicht in spätestens einer Stunde da bist – mit den
zwanzigtausend Pfund, versteht sich –, übergebe ich Harris
die junge Dame. Und du weißt ja, wie Harris ist, wenn's um junge
Damen geht.«
»Faulkner. Sekunde. Hör mir zu!« schrie Marlowe.
Umsonst. Es klickte leise in der Muschel. Und dann war die Leitung tot.
11
Ein paar Augenblicke stand Marlowe da wie erstarrt, den Hörer
noch am Ohr. Dann legte er ihn langsam auf die Gabel. Er ging aus der
Haustür und rannte über den Hof. Der Regen
durchnäßte ihn. Es kümmerte ihn nicht.
Die Leiter zum Dachboden stand noch da. Er blickte
einen Moment an ihr empor. Dann kletterte er sie hoch. Er fand die
Tasche genau dort, wo er sie abgestellt hatte, zog sie unter dem alten
Netz hervor und stieg rasch wieder die Leiter hinunter.
Er lief zum Haus zurück, die Tasche in der
rechten Hand schwingend, und dachte darüber nach, was er als
nächstes tun würde. Im Wohnzimmer kippte er den Inhalt der
Tasche auf den Tisch, setzte sich in einen Sessel und zündete sich
eine Zigarette an.
Die Banknotenbündel bedeckten fast die ganze Tischplatte.
Einige waren auf den Boden gefallen. Marlowe starrte
sie mit klopfendem Herzen an, und nach einer Weile lachte er
spöttisch. Es war wirklich komisch, wenn man es genau betrachtete.
All die Jahre, die langen, harten Jahre hinter Gittern. Der graue
Morgen, der durch das winzige Fenster drang, die trostlosen
Menschenschlangen, die über die Flure schlurften, der
erbärmliche Fraß, der Schmutz, die Verwahrlosung, die
Verkommenheit. Er hatte es ertragen, und nur eins hatte ihn zum
Durchhalten bewegt: Das Wissen, daß er wieder frei sein und
genügend Geld haben würde, um den Rest seiner Tage bequem zu
leben.
Man konnte es gut aushallen in einem Land
wie Irland, wenn man zwanzigtausend Pfund im Hintergrund hatte. Marlowe
seufzte. Dann lachte er wieder. Ja, es war in der Tat eine Ironie des
Schicksals, daß er all das für eine junge Frau opfern
sollte, die er erst ein paar Tage kannte.
Er stand auf und packte das Geld wieder in die Tasche.
Eine Weile hatte er versucht, sich vorzumachen, er habe Alternativen,
aber im Innersten wußte er, daß es nur eine
Möglichkeit gab. Die Maske der Härte, die er sich zugelegt,
die Mauer der Brutalität, die er in all den Jahren um sich
aufgerichtet hatte, um dem Leben gewachsen zu sein… das half ihm
jetzt gar nichts. Er stand vor einem menschlichen Problem. Es konnte
nur auf eine Art gelöst werden. Durch ein Opfer seinerseits.
Er machte die Tasche zu, schob sie beiseite. Er
erinnerte sich daran, daß er im Sideboard eine Karte von Litton
und Umgebung gesehen hatte. Er holte sie und breitete sie auf dem Tisch
aus. Als er darüber saß, war ihm seltsam leicht zumute, und
er wußte nicht, warum.
Die Garvald-Mühle lag an einem Nebenweg, etwa
fünfhundert Meter von der Landstraße nach Birmingham
entfernt, ein Stück außerhalb von Litton. Marlowe fand einen
Bleistiftstummel in der Tischschublade, zog einen Kreis um die
Mühle und dachte nach.
An der Mühle führte ein Fluß vorbei,
die Gegend war waldreich… Marlowe runzelte die Stirn, ging zum
Sideboard und goß sich einen Brandy ein. Wenn er nur hinfahren
und Faulkner das Geld hätte übergeben müssen, wäre
es eine einfache Sache gewesen.
Aber Butcher und Harris waren auch da. Faulkner war
verdreht, doch auf seine Weise in Ordnung. Er hatte eine Art
Ehrenkodex. Butcher und Harris dagegen… Sie waren auch verdreht,
nur sehr viel anders, und Marlowe hatte das unbehagliche Gefühl,
daß sie ihn diesmal nicht ungeschoren davonkommen lassen
würden. Harris jedenfalls bestimmt nicht. Der Mann war ein
Psychopath, und wenn er erst einmal, loslegte, wußte niemand, was
er tun würde.
Marlowe dachte an Faulkners Drohung,
Harris das Mädchen zu übergeben. Ihm schauderte, und er ging
wieder zur Karte. Die Mühle lag an einem Waldrand, und die
Straße, die zu ihr führte, machte einen scharfen Knick. Man
konnte also ziemlich nah an sie herankommen, ohne gesehen zu werden.
Marlowe verließ das Wohnzimmer und ging in die
Küche. Er zog alle Schubladen auf, bis er die fand, in der Maria
ihre Küchenmesser verwahrte. Sie hatte eine reiche Auswahl.
Marlowe suchte sich schließlich ein Tranchiermesser mit über
zwanzig Zentimeter langer
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