Gesichter der Nacht
goß sich ein
Glas Brandy ein. Er trank es auf einen Zug und hustete, weil ihm der
Schnaps in der Kehle brannte.
An der Wand hing ein Spiegel, und er betrachtete sich
flüchtig und war sich so fremd, als sei das jemand, den er nicht
kannte und nie gekannt hatte. Eine Hand legte sich auf seine Schulter,
ein warmer Körper schmiegte sich an seinen. »Das ist es,
Liebling«, sagte Jenny. »Das ist es, wovon ich gesprochen
habe. Du und ich. Wir können alles haben, was wir wollen.«
Er drehte sich um, schüttelte sie von sich ab wie
eine Fliege und schaute O'Connor an, der zusammengesackt in seinem
Sessel hing. »Mein Gott«, sagte er heiser, »du machst
dir nicht mal die Mühe, deinen Toten zu begraben, wie?«
Sie starrte ihn an, mit frostigem Blick, und er wandte
sich ab, wankte durch die Tür und ließ sie mit ihrem Onkel
allein in ihrem wunderhübschen Zimmer, wo sie lauter schöne
Dinge um sich hatte.
Die Rückfahrt nach Litton war
entsetzlich. Es regnete so heftig, daß man kaum fünfzehn
Meter weit sah. Die Scheibenwischer nützten fast gar nichts.
Das Kopfsteinpflaster auf dem Hof stand unter Wasser,
und als Marlowe aus dem Fahrerhaus sprang, stieg es über seine
Schuhe so kalt, daß es ihn bis in die Knochen fror. Dann stand er
in der Diele, zog seine nasse Jacke aus und merkte plötzlich,
daß es totenstill war im ganzen Haus. Er verharrte reglos, den
Kopf etwas erhoben, mit bebenden Nüstern wie ein Tier, das Gefahr
wittert.
»Mac!« rief er. »Wo bist du?« Seine Stimme hallte hohl durch das unheimliche Schweigen.
Er stieg die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf
einmal, und lief den Flur entlang. »Mac!« schrie er und
riß die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf. Er blieb auf
der Schwelle stehen. Die Jacke fiel ihm aus der Hand. Er blickte
bestürzt um sich.
Das Zimmer glich einem Schlachtfeld. Das Bettzeug war
in alle Richtungen verstreut, die Matratzen waren aufgeschlitzt –
die Roßhaarfüllung quoll heraus. Sämtliche Schubladen
aufgerissen und durchwühlt. Marlowes Habseligkeiten waren auf den
Boden gekippt worden.
Er drehte sich rasch um und ging nach unten. Die
Küche sah so aus wie immer, nur daß das Feuer auf dem
altmodischen Rost erloschen war. Marlowe stand in der Tür und
ließ seine Augen langsam über den Raum schweifen.
Ein Schauder überlief ihn. Er trat ein und ging vor dem Tisch in die Hocke. Auf dem Boden war eine Blutlache.
In diesem Moment schrillte das Telefon durch die
Stille. Marlowe rannte durch die Diele, von Furcht geschüttelt,
stürzte ins Wohnzimmer, hob mit fliegenden Fingern ab.
»Marlowe. Hallo?«
Es knisterte in der Leitung. Und dann
sagte eine Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam: »Hallo,
Hugh, Alter. Schön, daß du wieder da bist. Ich versuche
schon seit einer Stunde, dich zu erreichen. Das ist mein fünfter
Anruf.«
Marlowe schluckte und bemühte sich, gelassen zu sprechen. »Wer ist am Apparat?« fragte er.
Ein munteres Lachen drang an sein Ohr. »Erkennst
du mich nicht wieder, Alter? Da bin ich aber schwer beleidigt. Hier
Faulkner.«
Marlowe schloß ein, zwei Sekunden die Augen.
Seine Hand krampfte sich um den Hörer. »Wie habt ihr mich
gefunden, verdammt noch mal?«
»Das soll uns im Moment egal sein«, sagte
Faulkner. »Das Entscheidende ist, daß wir dich besuchen
wollten und dich nicht angetroffen haben. Aber wir sind in deinem neuen
Zuhause einer jungen Dame und einem farbigen Herrn begegnet und haben
ihnen den Vorschlag gemacht, uns ein paar Stunden Gesellschaft zu
leisten.«
Marlowe befeuchtete seine Lippen. »Komm zur Sache, Faulkner. Was willst du?«
»Na, nun aber, Alter. Das weißt du doch.«
»Ich habe Blut auf dem Küchenboden
gesehen«, sagte Marlowe. »Von wem ist das? Doch nicht etwa
von dem Mädchen?«
Faulkner gab ein Geräusch des Abscheus von sich.
»Nein, natürlich nicht. Es ist von deinem jamaikanischen
Freund. Er war leider nicht ganz einverstanden mit unserem Vorschlag.
Butcher mußte ihn erst ein bißchen überreden. Aber
laß dir deswegen keine grauen Haare wachsen. Es geht ihm recht
gut.«
»Und dem Mädchen?« fragte Marlowe.
»Oh, dem auch«, sagte Faulkner.
»Jedenfalls im Moment. Man hat mir zugetragen, daß dir die
junge Dame nicht ganz gleichgültig ist, Alter.«
»Wer hat dir das zugetragen?« fragte Marlowe heiser.
»Auch das soll uns im Moment egal
sein«, erwiderte Faulkner. »Im Interesse der jungen Dame
kann ich nur hoffen,
Weitere Kostenlose Bücher