Gesichter im Nebel (German Edition)
deutlich. Während die junge Frau noch ganz unbefangen mit ihm ein paar Worte wechselte, fühlte er plötzlich die Anwesenheit der ruhelosen Seelen. Es war ganz bestimmt deren Absicht, dass sie die Rede auf diese vermaledeiten Steine gebracht hatte. Sie hätte ja auch jeden anderen fragen können, der da des Wegs kam. Nein, es musste gerade er sein.
Und wie war das erst mit den Gefühlen, die sie in ihm weckte? Steckte da nicht auch bereits ein ihm unerklärlicher Plan, eine Art Lenkung dahinter, wurden da nicht Schicksalsfäden gewoben, die in die Zukunft reichten? Es schien ihm fast so. Bei diesem Gedanken fühlte er sich mehr als unwohl. Sollten sich die Schatten schon so weit seiner Gedanken und Gefühle bemächtigt haben, dann war er schließlich nur ihr Spielball und sah sich mit Entwicklungen konfrontiert, die von ihnen und eben nicht von ihm selbst herbeigeführt wurden. Nein, so nahm er sich vor, das durfte auf keinen Fall passieren. Er musste auf der Hut sein.
Er war ganz schön verwirrt, so, wie es der Verfasser der Schrift anfänglich von sich selbst beschrieb, der erst im Lauf der Jahre besser mit diesen irrealen Dingen der Schattenwelt umgehen konnte. Und das nämliche Schicksal dürfte jetzt ihm blühen, seit er „wissend“ geworden war.
Brighid hatte das andere Ende der Insel erreicht. Da schien es ein paar Häuser mehr zu geben. Schließlich entdeckte sie eine kleine Bucht. Ein Fischerkahn wurde dort am Strand hochgezogen, einige Netze hingen zum Flicken auf einem halb morschen Holzgestell, ein idyllisches Plätzchen inmitten einer wilden Felskulisse, nicht weit entfernt vom Haus des Ledermachers. Nur wenige kleine Wellen schwappten ans Ufer und zogen sich im Rhythmus des heute mäßig bewegten Meeres wieder schlürfend zurück. Es entstand ein ganz eigenartiges Geräusch, wenn die rundgeschliffenen Kiesel am Strand mitgeschleift wurden, so als reibe eine unsichtbare, große Hand mit Sandpapier darüber.
Brighid setzte sich auf einen Steinblock, genoss die noch wärmenden Sonnenstrahlen und träumte einfach vor sich hin. So vergingen die Mittags- und die ersten Nachmittagsstunden. Sie fühlte sich überhaupt nicht hungrig, während in der Herberge die Kommilitonen wahrscheinlich irgendetwas zusammenbrutzeln und der verrückte Franzose immer wieder vorbeischlich, in der vagen Hoffnung, dass seine Flamme endlich auftauchte. Bei diesem Gedanken musste sie fast schadenfroh lächeln. Mochte sich doch dieser aufdringliche und besitzergreifende Kerl die Zähne an ihr ausbeißen.
Plötzlich hörte sie fröhliche Kinderstimmen. Kurz darauf bogen die beiden Töchter des Ledermannes auf einem Pfad um die Ecke. Als sie die fremde Frau mit ihrem fließenden, glänzenden Goldhaar erblickten, verstummten sie plötzlich, blieben wie hypnotisiert stehen und starrten sie mit großen, wundergläubigen Augen an.
Sie lächelte ihnen zu, winkte gar mit der Hand und bedeutete ihnen, ruhig näherzukommen. Zögernd gingen die beiden Mädchen ein paar Schritte vorwärts.
Dann fasste sich Caroline, die ältere, ein Herz und fragte schüchtern: „Kommst du aus dem Meer?“
Brighid musste lachen.
„Seh’ ich so aus, mhm? Schaut, ich habe doch gar keinen Fischschwanz!“
Sie streckte ihnen wie zum Beweis ihre in Bluejeans steckenden Beine entgegen.
„Aber“, entgegnete die Kleine nun kecker, „du siehst genauso aus wie eine Meerjungfrau, die wir schon ein paarmal gesehen haben.“
„So, tue ich das?
„Ja, gewiss, die hatte auch so langes Haar, aber mit Tang dazwischen. Doch dann verschwand sie wieder im Wasser.“
„Aber hat euch denn eure Mutti nicht gesagt, dass es gar keine Meerfrauen gibt und dass alles das nur Märchen sind?“
„Doch, es gibt sie und es gibt auch andere Geister! Du kannst sie manchmal auf dem Hügel da drüben sehen. Sie schwirren durch die Luft und sie tanzen am Abend. Auch die haben wir gesehen, ja, ganz gewiss“, fügte Riona, die Kleinere, wichtig an.
„Aber ich bin aus Fleisch und Blut. Ihr könnt euch selbst überzeugen“, und die junge Dublinerin kniff sich lachend in den Arm. „Seht her, wirklich alles festes Fleisch!“
„Was machst du dann hier? Du bist ja gar nicht von unserer Insel!“
„Ich mache Ferien und ruhe mich ein bisschen aus. Ich wohne in der Jugendherberge.“
„Mhm. Schade, dann können wir also wieder nicht mit einer Serena sprechen und das wollen wir nämlich.“
„Aber nun erzählt ihr mal. Wo kommt ihr denn her?“, fragte Brighid
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