Gesichter: Roman (German Edition)
nichts, trotzdem war es, als würde er seine Spur aufnehmen, indem er durch die Gegend ging, durch die der andere möglicherweise gekommen war. Er saß auf einer Bank an einem belebten Platz, sah die Fassaden der heruntergekommenen Bauten und war sich auf hellseherische Weise der Tiefe ihrer Hinterhöfe bewusst, dem Mülltonnenmuff im Schatten der Mauern, den hallenden Fahrradgängen und ewig düsteren Erdgeschosswohnungen.
In der Klinik begann er Gruppen zu meiden. Er aß allein, hielt sich abseits, um sichtbar zu bleiben, als Einladung an den anderen, aus der Deckung zu kommen. Es war nur eine Geste, eine innere Haltung, aber sie zeigte Wirkung. Gabor glitt hinüber in einen anderen Zustand, ungewohnt und vertraut, in dem er die Dinge in einer fantastischen Langsamkeit erlebte und sich immer mehr mit ihm verbunden fühlte. Eines Abends fuhr er über die Avus an den Wannsee, langsam, verfolgte im Rückspiegel das Näherkommen und Vorbeifahren der Autos auf der Überholspur. Er stellte den Wagen vor einer Schranke ab und ging den sandigen Weg entlang, hoch über dem Ufer, das hinter dem Kiefernwald lag, verdeckt von dschungelhaft dichtem Unterholz. Niemand war zu sehen, er war der Einzige weit und breit. Er stand da und lauschte in den Raum hinein, der über ihm von den Baumkronen begrenzt wurde. Er hätte nicht erklären können, was er tat, warum es richtig war. Er erreichte die Anhöhe, von der sich ein Blick aufs Wasser bot. Das weiche Herbstlicht gab der Oberfläche einen meerblauen Schimmer, tief unter ihm leuchteten die weißen Dreiecke der Segel, klein und rührend wie von Spielzeugbooten. »Komm«, dachte er. »Zeig dich«, und: »Siehst du das auch?«
Es war kühler geworden. Vielleicht würden sie zum letzten Mal draußen sitzen, und Malte trug schon seine Fellweste, während er sich über seine Nudeln hermachte.
»Willst du eigentlich, dass ich zu deinem großen Auftritt komme?«, fragte Berit. Er nahm ihre Reserviertheit fast erleichtert zur Kenntnis. Sie hatte nicht vor, dabei zu sein, sie wollte nur gefragt haben. Während Gabor nach der schonendsten Art suchte, Nein zu sagen, rief Malte:
»Da will ich auch hin!«
»Das geht nicht, Schatz. Da bist du im Kindergarten.« Berit berührte Maltes Wange mit dem Handrücken. Sie warf Gabor einen Blick zu, aber als er nichts erwiderte, sagte sie knapp: »Ich muss morgen nach Hildesheim und bin erst am Abend zurück. Diese Frau, die Nonne möchte mir etwas zeigen.«
»Gehst du ins Kloster, wo die Nonnen wohnen?«, wollte Malte wissen.
»Die Frau ist keine Nonne. Ich nenne sie nur so, weil sie früher eine Nonne war.«
»Hat sie ein Kind?«
»Nonnen haben keine Kinder!«, rief Nele dazwischen, die kaum etwas gegessen hatte. »Weißt du, Malte«, Nele tat, als spräche sie mit einem Baby, »wenn Mama gut mit ihr redet, verdient Mama auch viel Geld. Wie Papa.«
Sie schob den Stuhl zurück und wollte aufstehen, aber Gabor sagte:
»Hier geblieben. Wir sind noch nicht fertig. Gibt jetzt keine Zigarette.«
Etwas verengte sich in Gabors Brust. Sand lag verteilt um den Kasten im Gras. Die schilfartigen Stauden und eine Pflanze in lila Pracht, deren Namen er immer wieder vergaß, neigten sich im Luftzug, Berit ihm gegenüber, eine Hand zwischen ihre Oberschenkel geklemmt, als sei ihr kalt. Er hustete, trank zur Beruhigung einen Schluck Wasser, im entfernten Geschrei der Kinder vom Spielplatz.
Niemand war unhöflich, aber sie hielten Abstand, abwartend oder respektvoll. Gabor hatte sich zurückgezogen, aber auch seine Kollegen hatten ihn umso mehr gemieden, je näher der Termin rückte. Sollte er die Stelle bekommen, würde sich die Architektur der Gruppe verschieben, weil er ein neues Forschungsteam bilden würde und die Frage seines Nachfolgers für die jetzige im Raum stand. Fiel die Wahl auf einen oder eine andere, würde sich ebenfalls etwas ändern, vielleicht sogar auf unheilvollere Weise. Erst am Tag bevor er den Vortrag halten sollte, ging Gabor auf, dass die Zurückhaltung seiner Kollegen auch damit zu tun haben könnte, dass er Yann gekündigt hatte. Yann war Gabors engster Mitarbeiter gewesen, alle wussten, dass sie einander von früher kannten, und sein Rausschmiss und die Tatsache, dass Yann alle seine Dienste hatte tauschen lassen, sodass sie nicht mehr gemeinsam arbeiteten, machten Gabor zu einem Vorgesetzten, vor dessen Unberechenbarkeit man sich besser in Acht nahm.
Nicht einmal Overkamp oder Lavinia klopften an die Tür, um ihm viel Glück
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