Gesichter: Roman (German Edition)
doch nicht verrückt.«
»Wann war das?«, fragte Gabor.
»Freitag, nach der Schule.«
Freitag. Der Tag seiner Anhörung. Der Tag, an dem der Unbekannte den Inhalt ihrer Mülltonne in ihrem Vorgarten verteilt hatte. Am Freitagmorgen hatte Nele vor der Schule Malte mit dem Fahrrad in den Kindergarten gefahren, damit Berit und er länger frühstücken konnten. Er leerte das Wasserglas, das Florians Mutter ihm unbemerkt hingestellt haben musste.
»Was hat Nele zu dir gesagt?«, wollte er noch einmal wissen.
»Sie hat gesagt, dass ich sie angeblich schon den ganzen Morgen verfolge und dass ich aufhören soll hinter ihr herzuschleichen«, wiederholte der Junge.
Auf der Fahrt hoffte Gabor, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte, bevor er Berit begegnete. Eifersüchtige Mitschülerinnen, verliebte Jungen, die Nachwirkungen einer Sommerliaison – trotz verrücktspielender Befürchtungen hatte er bis eben noch immer geglaubt, dass der Grund für Neles Verschwinden in der Sphäre emotionaler Verwirrungen oder spätpubertärer Überreaktionen zu finden sei, doch die Worte dieses Jungen hatten ihm den Boden unter den Füßen weggerissen, und er sah die dräuenden Wolken eines größeren Zusammenhangs näher kommen, dessen Ausmaß seine Hände am Lenkrad verkrampfen ließ.
Berit trat aus dem Haus, bevor er gehalten hatte, und als er sie sah, wusste er, dass Nele nicht gekommen war. Er wollte aussteigen, um seine Frau zu umarmen, er wollte einen stillen Moment, um ihr zu sagen, was er zu sagen hatte, aber sie eilte zielstrebig zur Beifahrertür, riss sie auf, schob sich auf den Sitz, und er fuhr weiter. Ihr Gesicht war spitz vor Kampfbereitschaft, vor Entschlossenheit, alle Hebel in Bewegung zu setzen. Sie hatte dafür gesorgt, dass Malte bei einem Kindergartenfreund übernachtete, um Zeit für die Suche zu haben. Sie hatte mit drei weiteren Klassenkameradinnen Neles telefoniert und auch mit der Volleyballtrainerin und einer ihrer Mitspielerinnen gesprochen: Niemand wusste etwas, niemand konnte sich Neles Verschwinden erklären.
Gabor versuchte es. Er versuchte, seine Hand auf Berits Unterarm zu legen, nachdem sie vor dem Backsteinbau gehalten hatten, und sie am Aussteigen zu hindern, er versuchte auf dem Weg zur Drehtür und dann im Gang, an dessen dunkelgrünen Wänden Plakate vor Trickbetrügern warnten, einen Anfang zu finden, aber es gelang ihm nicht, und so wurden sie zu einem Raum geschickt und Berit sagte zu dem Mann, der von einem Schreibtisch an der hinteren Wand zu ihnen aufschaute: »Unsere Tochter ist verschwunden.«
Der Beamte war darin geübt, Ruhe zu bewahren. Er hatte kurz geschorenes Haar und die rosa durchpulste Lederhaut eines Langstreckenläufers, und während Gabor ihm von Neles Anruf erzählte, füllte er die Felder eines Formulars aus, als handelte es sich bei der Angelegenheit um ein gestohlenes Fahrrad. Doch als Gabor erwähnte, dass der Pförtner die weinende Nele mit einem dreißigjährigen Mann gesehen hatte, verengten sich seine Augen.
»Wann, sagten Sie, war das?«
»Um halb zwölf ungefähr.«
Der Beamte sah erstaunt über ihre Köpfe hinweg an die Wand hinter ihnen.
»Wieso kommen Sie so spät?«
»Ich«, sagte Gabor verdutzt. »Ich dachte, Sie können erst etwas unternehmen, wenn jemand über Nacht vermisst wird.«
»Es kommt auf die Umstände an. Und das, was Sie erzählen, klingt dringend.«
Berit schluchzte, als der Beamte sie fragte, ob sie ein Foto von Nele dabeihätten. Sie zog einen Ausdruck aus ihrer Handtasche und zählte auf, was Nele am Morgen getragen hatte.
»Und der Mann in ihrer Begleitung?«
Der Polizist sah Gabor an.
»Wie gesagt: dunkles Haar, fünfundzwanzig bis dreißig.«
»Größe, Kleidung? Hat der Pförtner dazu etwas gesagt?«
Gabor schüttelte den Kopf.
»Was machen Sie jetzt?«, fragte Berit verängstigt, als der Beamte sich erhob.
»Ich gebe eine Suchmeldung raus und bin gleich wieder da.«
Berit saß gebeugt, mit nach vorn gerollten Schultern wie eine alte Frau. Gabors Kopf war leer. Angesichts dessen, was er ihr gleich sagen musste, empfand er eine Mutlosigkeit, die an Gleichgültigkeit grenzte. Er schwebte allein durch kosmischen Raum, während sein Leben, alles, was er liebte, forttrieb und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Berit weinte. Sie fiel zur Seite, drückte ihren Kopf gegen sein Schlüsselbein und weinte, und Gabor starrte auf den Heizkörper, im gleichen grünen Ton gestrichen wie die lackglänzenden Wände. Hinter der Scheibe
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