Gesichter: Roman (German Edition)
verströmten einen widerlichen Geruch, und er dachte an einen Elternabend des Gymnasiums, die burschikose Direktorin hatte den Fremdsprachenunterricht und den Musikschwerpunkt in höchsten Tönen gelobt: Mittelstufenorchester, Jazzband, Geigenunterricht. Nele hatte es mit der Querflöte probiert, die Stunden nach einem Jahr aber wieder aufgegeben und sich in den Sport gestürzt. Leichtathletik, Hockey, dann Volleyball. Gabor war plötzlich todmüde.
»Ist Ihnen denn etwas aufgefallen?«
»Gar nichts«, sagte die Lehrerin. »Nele wirkte manchmal erschöpft, aber das ist in dem Alter nichts Ungewöhnliches.«
Gabor dachte daran, wie sehr ihn Neles Beliebtheit während der Klassenführung durch die Station überrascht hatte: die Aufmerksamkeit suchenden Blicke der Jungen, die Berührungen der Mädchen, die seine Tochter in ihrer Mitte haben wollten. Er wusste nichts von ihr, nicht einmal, mit wem sie befreundet war. Die Lehrerin schob die Klassenliste über den Tisch, legte den Zeigefinger auf einen mit rosa Leuchtmarker hervorgehobenen Namen.
»Florian Ebers. Vielleicht kann er Ihnen weiterhelfen.«
Sein Mobiltelefon klingelte.
»Jetzt ist ihr Telefon ausgeschaltet, jetzt springt nicht einmal die Mailbox an!«, rief Berit aufgebracht. »Wir hätten gleich zur Polizei gehen sollen.«
»Beruhige dich«, beschwor er sie. »Beruhige dich doch.«
Obwohl er Berit versprochen hatte, nach Hause zu kommen, um gemeinsam zur Polizei zu fahren, kehrte er auf der Potsdamer Straße um. Die verzeichnete Straße lag in Lichterfelde Ost. Florian Ebers. Der Name sagte ihm nichts, er konnte sich nicht erinnern, dass Nele ihn jemals erwähnt hätte, doch gerade der Umstand ließ ihn hoffen, dass er etwas wusste. Ein hässlicher Neubau mit einer gekachelten Fassade an einer stark befahrenen Straße. Hundesalons, Videotheken, Lebensmitteldiscounter. Nachdem er geklingelt hatte, ging der Surrer. Als er den Flur betrat, blickte ihm eine Frau mit blondgefärbtem Haar durch den offenen Spalt einer Erdgeschosstür entgegen.
»Entschuldigen Sie, ich bin der Vater von Nele, einer Klassenkameradin Ihres Sohnes. Sie ist verschwunden, und ich hoffe, Florian kann uns helfen.«
Den Bruchteil einer Sekunde starrte sie ihn überrascht an.
»Bitte. Florian ist gerade nach Hause gekommen.« Er betrat einen laminatbezogenen Flur. Sie wies auf einen Tisch mit zwei Stühlen zwischen Küche und Wohnzimmer und ging zum Ende der Treppe, die vom Flur in den Keller oder ins Souterrain führte. »Florian!« rief sie. »Kommst du mal?«
Er konnte sich an den Jungen, groß, schlaksig und mit einzelnen langen Härchen, die ihm aus dem kinderglatten Kinn standen, nicht erinnern, obwohl er bei der Krankenhausführung dabei gewesen sein musste, denn als Erstes sagte er verdutzt: »Sie haben uns die Station gezeigt.«
»Es geht um Nele. Nele ist weg«, sagte seine Mutter.
»Und da kommen Sie zu mir? Hat sich ja schnell rumgesprochen.«
Er rutschte, die Arme vor der Brust verschränkt, im Stuhl einen halben Meter nach unten. Er hatte festes, widerspenstig abstehendes Haar und ein schmales Gesicht mit einem fragenden Ausdruck, der seine Intelligenz in den Hintergrund drängte.
»Was hat sich herumgesprochen?«, fragte Gabor. Der Junge schwieg, bis Gabor sagte: »Frau Leonhardt meinte nur, dass du mir vielleicht helfen kannst.«
»Die Leonhardt«, sagte der Junge abfällig. »Die steckt ihre Nase in Sachen, die sie nichts angehen.«
»Florian«, sagte seine Mutter mit der verzweifelten Ungeduld der Alleinerziehenden. Gabor sah sie bittend an. Kaum war seine Mutter in der Küche verschwunden, wurde der Junge verlegen.
»Ich weiß nicht, wo sie ist. Wirklich«, sagte er.
»Hast du heute mit ihr gesprochen?«
»Nein –« Er holte Luft.
»Aber?«
»Aber am Freitag.«
Wenn Gabor die Andeutungen und umständlichen Erklärungen richtig verstand, war Florian in Nele das, was sie früher »verliebt« genannt hätten – er sagte »an ihr interessiert« –, und hatte sie am Freitag gefragt, ob sie mit ihm ins Kino gehen wolle. Er wich Gabors Blick aus und nuschelte: »Wollte sie aber nicht.«
»Und?« Die Hände tief in den Taschen seiner weiten Hose, druckste er eine Weile herum. »Und was?«, wiederholte Gabor.
»Sie war wütend auf mich. Sie hat gesagt, ich solle endlich aufhören sie zu verfolgen. Sie wisse ganz genau, dass ich schon den ganzen Morgen hinter ihr hergeschlichen sei.«
»Stimmte das?«
»Natürlich nicht«, rief der Junge. »Ich bin
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