Gesichter: Roman (German Edition)
bewegte sich das volle, an einigen Stellen schon gelb verfärbte mächtige Blattwerk einer Kastanie im Wind und ließ hin und wieder einen Ausschnitt einer Villa sehen. Die imposanten Häuser, die parkartigen Grundstücke hier hatten nichts mit ihrer pittoresk verschlafenen Siedlung drei Kilometer südlich zu tun.
»Erinnerst du dich noch an den Mann, der sich in Patras auf die Fähre geschlichen hat?«
Schon mit den ersten Worten strömte Erleichterung als helles Licht in seine Brust, doch Berit hatte ihm nicht zugehört.
»Ich bin mal abgehauen. Amsterdam. Nach zwei Tagen war ich wieder zurück. Aber da war ich siebzehn.«
Bevor er etwas erwidern konnte, kam der Beamte zurück. Er wirkte weniger ungeduldig und schaute ernst, damit sie nicht auf falsche Gedanken kamen. Gabors Kehle war staubtrocken, doch im Raum befanden sich nur Schreibtische und altertümliche Rollschränke und nirgends ein Waschbecken.
»Fangen wir von vorn an: Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Tochter so verzweifelt gewesen sein könnte?«
Berit ergriff das Wort, als wollte sie ihm zuvorkommen. Nach den Sommerferien, sagte sie, sei Nele stiller gewesen als sonst, was sie mit einer Urlaubsliaison in Verbindung gebracht hätten. Sonst sei alles wie immer gewesen – nur ein kleiner Streit, weil Nele mit dem Rauchen angefangen habe.
»Probleme in der Schule?«
Berit schüttelte den Kopf.
»Drogen?«
Sie sagten beide nichts.
»Nimmt Ihre Tochter Medikamente? Antidepressiva zum Beispiel?«
»Nein.«
»Ist sie schon mal weggerannt?«
»Nein, verdammt. Sie ist ganz normal.«
Der Polizist reagierte nicht.
»Und bis auf diese Sache mit dem Rauchen also kein Streit. Und zwischen Ihnen?«
Dieses Mal sah er Gabor an, und als Gabor den Kopf schüttelte, fragte er: »Wie ist Ihre Tochter so: Erzählt sie, wenn sie etwas bedrückt, oder macht sie es mit sich aus?«
»Sie ist vierzehn«, antwortete Berit. »Früher hat sie mehr erzählt. Sie ist kein Kind mehr, und ich wollte sie in Ruhe lassen.«
»Diese Urlaubsliaison, wie Sie sagen – ist die nach den Ferien weitergegangen?«
»Nein, das war in Griechenland, auf einer Insel. Wir wissen nicht einmal seinen Namen. Ich glaube, die beiden haben auch keinen Kontakt mehr.«
»Sie haben nie mit Ihrer Tochter darüber gesprochen?«
»Natürlich habe ich es versucht, aber sie wollte nicht.«
Wie beruhigend, dachte Gabor, wie verführerisch, Neles Verschwinden mit dieser Sommergeschichte in Verbindung zu bringen, zu glauben, man könnte seine Tochter zurückholen, indem man sich über die Intensität an- und abflauender Gefühle unterhielt.
»Haben Sie mal daran gedacht, dass Ihre Tochter schwanger sein könnte?« Die Frage holte ihn abrupt ins Zimmer zurück. Auch Berit brachte kein Wort heraus. »Wenn vierzehnjährige Mädchen ausreißen, dann tun sie das einfach«, sagte der Beamte. »Sie verschwinden und kommen nicht vorher zu ihrem Vater. Sie wollte Ihnen aber etwas sagen, etwas, zu dem sie sich überwinden musste.«
»Sie war auf der Flucht!«, rief Gabor. »Sie fühlte sich verfolgt und wusste nicht, wohin. Schwanger! Wie kommen Sie auf diese Idee?«
»Ich höre Ihnen zu. Und ich verlasse mich auf meine Erfahrung.«
»Aber Sie waren doch so beunruhigt wegen des Mannes, mit dem sie vor ihrem Verschwinden gesprochen hat«, sagte Berit verwirrt.
Der Beamte blickte von Gabor zu Berit und dann wieder zu Gabor, als verriete etwas an ihnen, ihr Geruch, ihre Anspannung oder einfach nur die Art, in der sie reagierten, mehr über Neles Verbleib, als sie selbst wussten. Gabor blickte durchs Fenster. Die üppige Blätterpracht beruhigte ihn. Er zögerte nicht, er suchte nicht nach einem Anfang, die Worte kamen von allein.
»Ich weiß, wer der Mann ist, mit dem sie der Pförtner gesehen hat. Ein Mann, ein Flüchtling. Wir waren im Sommer auf der gleichen Fähre von Patras nach Ancona.«
»Was?« Gabor wandte sich zu Berit, sah ihre Bestürzung, ihr Entsetzen, aber so unbeteiligt, als blickte er durch sie hindurch.
»Ich habe am Hafen beobachtet, wie der Mann auf einen Lastwagen gesprungen ist, und nachdem das Schiff abgelegt hat, bin ich aufs Lastwagendeck gegangen und habe ihn gesucht. Ich weiß nicht, ich wollte ihm helfen oder –«
Erstaunt sah ihn der Polizist an.
»Haben Sie ihn gefunden?«
»Ja. Und ich habe ihm geholfen. Ich habe die Tür des Lastwagens hinter ihm zugemacht.« Gabor hörte Berits schweren Atem, aber er vermied es, sie anzublicken. »Aber vorher habe ich eine Tüte
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