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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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standen im matt spiegelnden Schein ihrer Küchenschränke mit Blick auf ihren Bonsaigarten, auf die in allen Rotschattierungen leuchtende Hecke. Nur Berit saß mit gesenktem Kopf am Tisch, Unterarme auf der Platte, Hände gefaltet wie eine Bäuerin am Ende eines langen Tages.
    »Was will er? Was sollen wir tun?«, fragte Gabor.
    »Bisher will er gar nichts.«
    »Er will also, dass wir verrückt werden vor Angst.«
    Die Polizistin antwortete nicht. Er hatte geglaubt, sie sei eine Anfängerin und werde bei ihrem ersten oder zweiten Fall von ihrem Kaugummi kauenden Kollegen überwacht, aber sie hatte offenbar tatsächlich das Sagen.
    »Wie viele Karten haben Sie geschrieben? Wie viele hat er noch?«
    »Eine.«
    Die Nachricht gefiel ihr nicht.
    »Wir observieren das Gebiet rund um das Postamt. Wir machen weiter wie bisher. Zwei Kollegen werden vor dem Haus aufpassen.«
    »Und wir? Was können wir tun?«
    »Halten Sie Ihre Telefone eingeschaltet.«
    Als sie gegangen waren, lag eine gespenstische Stille im Haus. Er machte das Licht im Flur aus. Berit saß noch immer regungslos am Küchentisch. Er trat ans Wohnzimmerfenster und sah hinaus auf das schmale Stück Vorgarten und den Fußweg und den Passat, der hinter seinem Wagen in einer Parkbucht stand. Durch die bläulich spiegelnde Scheibe sah er zwei junge Männer, die ihn beobachteten. Sie schienen zu sprechen. Als er die Hand hob, hob auch der auf der Fahrerseite die Hand. Die Luft schien zu einem Pulver zu zerfallen, das sich mit jedem Atemzug dichter auf seine Lunge legte. Jede Bewegung verursachte ein trockenes Rascheln in seinen Ohren. Er hob ein zweites Mal die Hand, und wieder hob der Polizist hinter der Windschutzscheibe ebenfalls die Hand. Ihr Leben hatte sich in einen Albtraum verwandelt, dessen Schrecken darin bestand, dass die Zeit nicht verging.
    Wie einfach, die Bilder, die Geschichten aufzurufen, die zur eigenen Panik passten, seine Fantasie in Flammen setzten und mit immer neuen furchtbaren Details fütterten. Sekunden nachdem er die Suchbegriffe eingegeben hatte, wusste er, dass sich Hautprofile mit Säure oder dem Auftragen einer aggressiven Enthaarungscreme und dem anschließenden Verbrennen der angegriffenen Haut auf einer heißen Herdplatte zerstören ließen. Ein weiterer Tastendruck, und ihm standen Dutzende Fallbeschreibungen und Fluchtgeschichten zur Auswahl, eine lange Liste der Qualen. Er las von Polizisten, die sie mit nassen Handtüchern schlugen, sie aus Blechnäpfen fressen ließen oder Löcher in den Boden überfüllter Boote hackten und die mit Wasser volllaufende Nussschale wieder aufs nächtliche Meer hinaustrieben. Er versuchte, es sich vorzustellen: den Moment, als der Riegel zurückgeschoben und die Tür aufgestemmt wurde, Taschenlampen das Innere des Laderaums ausleuchteten, doch es war ihm nicht möglich, sich hineinzudenken, Versionen und Erklärungen zerstoben wie Sterne vor seinen Augen, während die Angst sich jeder Zelle seines Körpers bemächtigte. Ein Kribbeln im Nacken, das sich über Rücken und Brust ausbreitete und in dünnen, kalten Strömen seine Waden hinunterlief, bis er glaubte, den Verstand zu verlieren. Der Passat mit ihren Bewachern stand dort wie eben. Serviettenfetzen flatterten in den Sträuchern am Rand ihres Vorgartens.
    Sie hatten: Nichts. Eine Postkarte mit seltsamen Fingerabdrücken und der Spur von Neles Zeigefinger. Er musste die Teile des Puzzles Stück für Stück auseinandernehmen, um beim erneuten Zusammenlegen den Fehler zu entdecken. Es musste einen Fehler geben. Glaubte er tatsächlich, dass Nele entführt worden war, oder schloss seine Angst davor nur alle anderen Möglichkeiten aus? Nele könnte weggelaufen sein, gekränkt oder verwirrt, schwanger oder aus einem anderen Grund verzweifelt. Sie könnte zu diesem unbekannten Jungen geflüchtet sein, nach Frankreich, Amerika, England oder woher auch immer er kam. Er hatte Nele nie mit jemandem gesehen, aber jetzt fiel ihm ein, dass sie mal zu viert in der Eisdiele gesessen hatten und Nele immer wieder zu einer Gruppe junger Schweden am Nachbartisch gesehen hatte. Er klopfte nach hohlen Stellen, lauschte auf die Reaktion, die seine Fragen in ihm auslösten.
    Er listete Orte und Personen und Motive auf: Blinder Passagier. Ich. Nele. Unbekannter Sommerfreund. Mitschüler. Insel. Patras. Fähre. Berlin. Er schrieb: Nele verliebt sich im Sommer. Er hielt inne, die Spitze des Kugelschreibers hing zitternd über dem karierten Papier. Er dachte an den

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