Gespenstische Warnung
Linda wie eine Glucke
bewachte. Aber das Ganze entwickelte sich zu einer Krise. Deshalb hielt ich
auch Sorel gestern abend davon ab, in ihre Wohnung zu gehen. Ich glaubte, er
sei gekommen, um Linda mit sich zu nehmen, und ich wußte, was mit mir geschehen
würde, wenn ich das zuließe und Andrea dahinterkäme.« Seine Stimme klang wieder
normal, als er weiterredete. »Vermutlich haben Sie inzwischen eine Vorstellung
davon, wie schwierig das Zusammenleben mit meiner Schwester manchmal sein
kann.«
»Bist du mal wieder dabei, Bruder?«
sagte Andrea von der offenen Küchentür her. »Tauschst du mal wieder kleine
Vertraulichkeiten über mich hinter meinem Rücken aus?« Sie ging zur Couch
hinüber und setzte sich nieder. Alle Farbe wich aus Marcos Gesicht, während er
zusah, wie sie ihren Martini trank. Ich kostete den blassen Sherry und unterdrückte
einen Schauder. Vielleicht war es ein großartiger Sherry, aber wie sollte ein
eingefleischter Bourbontrinker das beurteilen?
»Ich habe nur das gesagt, was du
früher oder später selbst einsehen mußt, Sis «, sagte
Marco mit erstickter Stimme. »Mehr nicht.«
»Was soll ich denn einsehen?« fragte
sie.
»Nun—«, er hatte sich mit seiner
eigenen großen Klappe in diese Situation gebracht und wußte das auch, »-ich
meine, dein Leben mit Linda hätte ja nicht ewig andauern können, oder?«
»Warum nicht?«
Marco machte eine hilflose Geste. »Sie
wäre zu Sorel zurückgekehrt.«
»Ich denke nicht daran, die Erinnerung
an meine Mutter zu besudeln, indem ich dich als verlogenen Sohn einer Hure
bezeichne! Linda wollte von Sorel nichts mehr wissen!« fauchte sie ihn an. »Sie
hatte Angst vor ihm, das war alles. Du solltest uns beide vor ihm schützen,
aber du hast ein Spatzengehirn. Geht es denn nicht in deinen dicken Schädel,
daß Linda mich liebte? Sie hätte mich immer geliebt, du rückgratloser Kretin!
Warum, glaubst du, hat Sorel sie sonst umgebracht?«
»Es ist nicht wahr!« Ein leichter
Unterton von Hysterie kam in seine Stimme. »Du weißt im Grund genau, daß es
nicht wahr ist. Sie war bereit, dir davonzulaufen und Sorel wieder zu heiraten,
nur willst du darüber jetzt, da sie tot ist, nicht nachdenken!«
»Mich hat sie geliebt.« So wie Andrea
es sagte, war es eine dogmatische Feststellung, geboren aus tiefster
Überzeugung. »Nichts hätte das, solange sie lebte, je ändern können.«
» Sis —«
Marco blinzelte, und Tränen traten ihm aus den Augen. Er stolperte zur Couch
hinüber und kniete neben Andrea hin. »Sag das nicht«, wimmerte er. »Bitte!«
Ich sah den Ausdruck absoluten
Abscheus auf ihrem Gesicht, als ihr Bruder seinen Kopf in ihrem Schoß vergrub,
und fand es an der Zeit, daß Holman verduftete. In meiner Branche lernt man
nicht allzu viele normale Leute kennen, aber zumindest sind die meisten von
ihnen nicht langweilig. Ich strebte der Tür zu und ließ mein fast volles Glas
Sherry auf dem Tisch zurück.
» Sis —«
Marcos Stimme klang gedämpft, so daß sie wie die eines kleinen Jungen wirkte,
der um die Erfüllung seines Herzenswunsches bettelt. » Bitte !«
Ich hörte, wie sie antwortete, als ich
eben den Korridor erreicht hatte, und mir lief es kalt über den Rücken, als mir
der Sinn ihrer Worte mit voller Wucht aufging.
»Du armer, blöder Idiot!« In ihrer
Stimme lag eine Mischung aus Ungläubigkeit und Verachtung. »Du glaubst doch
wohl nicht im Ernst, daß ich nun — nur weil Linda tot ist — in deine Arme
zurückkehre?«
Nach dem Schock, den ich soeben in Marcos
Wohnung erlitten hatte, entschied ich, daß ich eine kurze Fahrt nötig hatte, um
einen klaren Kopf zu bekommen. Und als ich zwei Häuserblocks weit gekommen war,
entsann ich mich des vorhergegangenen Schocks, der mir bei der Trushman -Agentur zuteil geworden war.
Erst als ich gut fünf Kilometer den
Santa Monica Boulevard entlanggefahren war, kam ich auf den Drücker. Es war
derselbe Trick, den jeder Neunjährige mit einem Kinderzauberkasten lernt, bevor
er auch nur den Zauberstab schwingt — laß die Zuschauer dahin sehen, wohin sie
sehen sollen.
Natürlich blickte ich in den
Rückspiegel. Aber der dünne Mann mit dem Bürstenkopf und dem buschigen
Schnurrbart, der eine Golfmütze trug und einen cremefarbigen Jaguar und einen
Los-Angeles-RAMS-Kleber an der rechten Heckflosse hatte, war vor mir.
Er war wirklich gerissen. Er wandte
die umgekehrte Psychologie an: Wenn du dich vor jemandem verstecken willst, der
nach dir Ausschau hält, dann sei so
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