Gesponnen aus Gefuehlen
schnappte nach Luft. »Das fragen Sie noch? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele wertvolle Bücher durch Ihre Unachtsamkeit verloren gegangen sind?«
»Meine Unachtsamkeit?« Lucy war perplex. »Ich kann nichts dafür, dass das Feuer ausgebrochen ist.«
»Reden Sie sich nicht heraus, Mädchen«, erklang die Stimme von Mr. Barnes, der in der Tür zu seinem Büro aufgetaucht war. »Es hat dort unten noch nie gebrannt und kaum haben Sie die Aufsicht, kommt es zu so einer Katastrophe. Was haben Sie an dem Tag überhaupt hier zu suchen gehabt? Ich frage mich, was Sie mit dem Brand bezweckt haben.«
Lucy erschien es, als sei sie in einen Albtraum geraten. Gaben die beiden ihr die Schuld an dem Unglück? Das konnte nicht sein.
»Hat die Feuerwehr nicht entdeckt, wie und wo das Feuer ausgebrochen ist?«, fragte sie tonlos, nachdem Mr. Barnes die Puste ausgegangen war. Der Mann war mittlerweile puterrot und bei Lucys Frage wechselte seine Gesichtsfarbe zu Lila.
»Samt und sonders unfähig, diese Leute. Natürlich haben sie nichts festgestellt. Trauen sich ja kaum hinunter. Wenn wir die Bücher nicht bergen würden, wären sie für immer verloren. Diese Ignoranten wollten das Archiv sperren. Faselten etwas von Einsturzgefahr. Die wissen einfach nicht, welche Kostbarkeiten hier lagern.«
Einen Moment schien es, als ob er Lucys Anwesenheit vergessen hätte. Dann wandte er ihr wieder seinen hasserfüllten Blick zu.
»Und Sie, junges Fräulein.« Er kam mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie zu und es fehlte nicht viel und er hätte Lucy auf die Brust gepikt. »Sie lassen sich besser nicht mehr blicken. Sie haben ab sofort Hausverbot. Und es ist mir egal, was diese unfähigen Beamten herausfinden. Für mich steht die Schuldige fest.«
Lucy wich zwei Schritte zurück.
»Mich trifft keine Schuld. Ich hätte den Büchern niemals etwas angetan.«
Mr. Barnes verachtender Blick streifte sie. »Verschwinden Sie. Kommen Sie mir nicht noch einmal unter die Augen.«
Lucy schnellte herum und rannte aus dem Raum. Die schwere Eichentür fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Weshalb gaben sie ihr die Schuld? Sie wäre in dem Feuer fast gestorben. Wie konnte er annehmen, sie hätte das Feuer gelegt oder es sei durch ihre Unaufmerksamkeit entstanden? Viel wahrscheinlicher war ein Defekt in der maroden Elektrik des Archivs. Mr. Barnes hatte sie von Beginn an nicht leiden können und vermutlich brauchte er einen Sündenbock. Seufzend rieb sie sich über ihr Gesicht. Die Kopfschmerzen, die sie seit dem Brand begleiteten, verstärkten sich. Die Verbände kratzten auf der Haut. Sie musste grässlich aussehen, doch das war momentan ihr geringstes Problem.
Ihre Beine liefen wie von allein zum Archiv. Sie tastete sich die Treppe hinunter. Sie hatte Angst vor dem, was sie zu sehen bekommen würde.
Unten angekommen war Lucy zunächst von der unnatürlichen Helligkeit irritiert. Dann bemerkte sie die Flutlichtstrahler, die in den Gängen standen. Die vorderen Reihen waren völlig unversehrt. Das Feuer musste erloschen sein, bevor es diese Regale erreicht hatte. Sie konnte sich nur dunkel daran erinnern, wo sie inmitten des brennenden Infernos herumgelaufen war. Sie hatte sich vollkommen verirrt und fragte sich, wie Nathan sie gefunden hatte und vor allem wie er mit ihr geflohen war.
Lucy strich über die unversehrten Buchrücken, in der Hoffnung, den Büchern einen Willkommensgruß zu entlocken. Sie schwiegen eisern. Ob sie ihr verzeihen würden?
Lucy ging tiefer in das Archiv hinein. Aus dem mittleren Bereich drangen Stimmen und ab und zu ein Lachen zu ihr. Je weiter sie ging, umso größer wurde das Ausmaß der Zerstörung. Von Schritt zu Schritt wurde ihr übler. Sie musste sich förmlich zwingen weiterzugehen. Was hatte sie ihren geliebten Büchern bloß angetan. Mr. Barnes hatte recht, es war ihre Schuld. Zwar hätte sie hier unten niemals auch nur ein Streichholz angezündet, aber im Grunde hatte sie etwas Schlimmeres getan. Sie hatte den Brandstifter hergebracht. Lucy schluckte, um die Tränen zu unterdrücken, die ihre Kehle hinaufstiegen.
Zwei Reihen weiter entdeckte sie Kollegen aus den oberen Räumen sowie einige Männer und Frauen, die sie nicht kannte. Das mussten die Mitarbeiter der Spezialfirma sein, die den Schaden sichteten und die Bücher, die zu retten waren, in Sicherheit brachten.
Marie saß mit zwei anderen Mädchen zwischen den angekohlten Regalen auf dem Boden und hob verbrannte Bündel in Kisten, die wie
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