Gesponnen aus Gefuehlen
so viele Jahre in dem Archiv gearbeitet hatte.
»Komischerweise hatte sie hauptsächlich Angst um dich«, beruhigte Marie sie. »Sie hat mich darum gebeten, dir auszurichten, dass du sie anrufen sollst. Ich habe ihr nicht viel Hoffnung gemacht, da ich selbst nicht wusste, wann du dich meldest.«
»Sie wird Batiste nicht überwachen«, überlegte Lucy.
»Wusstest du, dass sie in Frankreich ist?«, fragte Marie.
»Nein. Ich dachte, in ihrem Alter verbringt man seine Ferien im Warmen. Selbst Frankreich ist um diese Jahreszeit nicht besonders gemütlich. Wo ist sie denn?«
»Warte, ich habe es notiert«, sagte Marie und begann, in ihrer Tasche zu kramen. Dann schob sie Lucy einen Zettel zu.
»Bélesta«, sagte sie. »Ich habe es gegoogelt. Das ist mitten in den Pyrenäen. Ein winziges Dorf und bestimmt nicht besonders amüsant.«
»Montségur liegt auch in den Pyrenäen. Ob das in der Nähe ist?«, fragte Lucy.
Marie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. So genau kenne ich mich mit Frankreich nicht aus. Ich war nur neugierig.«
»Komisch. Hast du die Telefonnummer notiert?«
»Ja, klar. Sie hat darauf bestanden. Du sollst sie so schnell wie möglich anrufen.«
»Das mache ich.«
»Ich habe Geld, deinen Pass und ein Handy für dich mit. Auf der Telefonkarte sind hundert Pfund. Damit kommst du eine Weile klar. Die Karte hab ich neu gekauft. Die Nummer kennt de Tremaine sicher nicht. Hier auf dem Zettel steht eine Nummer, unter der du uns erreichen kannst. Auch eine neue Karte. Jules hat das Handy immer dabei. Ruf nur dort an, oder schicke eine SMS«, sagte Marie und reichte ihr die Sachen über den Tisch. »Jules meint, wenn deine Karte leer ist, sollst du sie wegschmeißen und eine neue kaufen. Finde ich ja ein bisschen übertrieben.« Marie lächelte. »Jules denkt sich ständig Sachen aus, wie wir den Alten austricksen können. Endlich sind die blöden Krimis, die sie die ganze Zeit liest, zu was Nutze.«
»Ohne euch wäre ich aufgeschmissen«, bedankte Lucy sich.
»Und ein paar frische Klamotten habe ich auch noch.« Marie hob eine Reisetasche an, die sie neben sich gestellt hatte.
»Du bist ein Schatz«, sagte Lucy.
»Ich wünschte, wir könnten mehr tun.«
»Ich möchte euch nicht unnötig in Gefahr bringen. Außerdem muss ich selbst erst herausfinden, was ich für die Bücher tun kann. Wie ich die gefangenen Bücher befreien kann. Das Medaillon zeigt mir zwar alle möglichen Erinnerungen, aber nichts dazu. Aber eins glaube ich verstanden zu haben. Ich brauche Nathan, um die Aufgabe zu erfüllen. Wir müssen das gemeinsam tun.«
Resigniert schwieg Lucy und zerknitterte den Zettel in ihren Händen.
»Merkwürdig, findest du nicht?«, fragte Marie. «Ich habe gedacht, er ist der Feind.«
»Dachte ich auch. Aber die Botschaft war eindeutig. Ich muss nach Cornwall.«
Hältst du das für klug?«, fragte Marie.
»Ich habe keine Wahl. Das weißt du doch.«
»Wo wirst du heute Nacht schlafen?«
»Keine Ahnung. Ich fahre noch ein oder zwei Stunden und suche mir ein B&B. Das klappt gut. Jetzt habe ich sogar Gepäck, dann guckt niemand mehr komisch.«
»Du meldest dich, ja? Dann wissen wir, dass es dir gut geht. Wenn wir länger als drei Tage nichts von dir hören, gehen wir zur Polizei. Irgendwann wird uns jemand anhören.«
»Klingt nach einem vernünftigen Plan.«
»Was anderes ist uns nicht eingefallen. Entschuldige.«
»Ist schon gut. Wir machen es genau so.«
»Mein Zug geht bald«, sagte Marie. »Chris sammelt mich in Oxford wieder ein. Er wollte erst nicht erlauben, dass ich mich mit dir treffe. Er hielt es für zu gefährlich.«
»Ich bringe dich noch ein Stück«, sagte Lucy, der es schwerfiel, sich von ihrer Freundin zu trennen.
Nachdenklich saß Lucy in dem Wagen und blickte dem Zug nach, der am Horizont verschwand. Sie fühlte sich einsamer als zuvor. Zu gern wäre sie mit Marie mitgefahren. In ihrer Hand knüllte sie den Zettel mit den Telefonnummern. Sie speicherte beide in ihrem neuen Handy ab. Ob sie versuchen sollte, Miss Olive noch heute anzurufen? Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich ein wenig vor den Vorwürfen, die diese ihr machen würde. Andererseits wollte Miss Olive unbedingt mit ihr sprechen. Lucy sah auf die Uhr. Dann startete sie den Wagen und fuhr los.
Es gibt keinen Freund,
der so treu ist wie ein Buch.
Ernest Hemingway
14. Kapitel
Nathan war müde. Seine Augen und Hände gehorchten ihm nicht mehr. Seit Tagen saß er in diesem finsteren
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