Gesponnen aus Gefuehlen
in dem Buch auch Gegenzauber geben?
Erst als es Nathans Berechnung nach auf den späten Nachmittag zuging, fand er, wonach er suchte. Fast hätte er den in braunes Leder gebundenen Band übersehen. Er war alt und auf den ersten Blick war zu erkennen, dass dies kein Schutzbuch war. Es war ein Original. Halb zerfallen und längst nicht mehr fest mit dem Ledereinband verklebt, lag es vor ihm. Verblichene goldene Lettern waren in den Deckel geprägt. Mühsam versuchte Nathan, den Titel zu entziffern. Es gelang ihm nicht. Ehrfürchtig griff er nach dem Buch. Unter seiner Haut begann es zu prickeln. Erschrocken zog er seine Hand zurück. So etwas hatte er noch nie erlebt. Das musste sein, wonach er gesucht hatte. Er wusste es mit untrüglicher Sicherheit.
Wieder griff er danach. Das Buch schmiegte sich in seine Hand, als hätte es nur darauf gewartet, dass er es fand. Aufmerksam begann er zu blättern. Die Schrift, die er im Inneren des Buches erblickte, war ihm unbekannt. Obwohl es eindeutig Wörter und keine mysteriösen Zeichen waren. Kein Wunder, dass das Buch nicht ausgelesen werden konnte, sondern sich als Original hier befand. Nathan betrachtete die Zeichnungen seltsamer Pflanzen. Einige kamen ihm bekannt vor, andere nicht. Komischerweise waren manche Teile der Pflanzen in völlig falschem Maßstab gezeichnet. Grundsätzlich hätte er vermutet, dass er ein botanisches Lehrbuch in der Hand hielt. Doch dann folgten merkwürdige Sternbilder und Zeichnungen von Tierkreiszeichen. Damit ähnelte es mehr und mehr einer astrologischen Abhandlung. Diverse chemische Formeln und Rezepturen ergänzten das Sammelsurium der verschiedenartigen Informationen.
Endgültige Gewissheit, dass er gefunden hatte, wonach er suchte, gab ihm ein schmales Notizbuch, das hinter dem Buch im Regal versteckt war. Nathan erkannte die gestochen scharfe Handschrift seines Großvaters. Akribisch hatte Batiste Notizen darin eingetragen.
Nathan hörte das Geräusch des schließenden Schlüssels. Er schob das Heft in seine Hosentasche und stellte das Buch zurück. So schnell er konnte, lief er in den vorderen Teil der Bibliothek zurück. Er schaffte es nicht bis zu seinem Schreibtisch.
»Nathan, wo bist du?«, erklang die herrische Stimme Batistes.
»Hier, Großvater.« Nathan trat aus einem Gang heraus.
»Wo warst du?«, fragte sein Großvater misstrauisch.
»Ich habe mir die Beine vertreten.«
»Wie weit bist du mit deiner Arbeit?«
Nathan schob ihm Dorian Gray zu. Batiste betrachtete zufrieden das leere Buch.
»Und die anderen?« Bevor Nathan etwas zu seiner Entschuldigung hervorbringen konnte, griff Batiste nach Nicholas Nickleby .
Nathan machte sich auf einen Wutanfall gefasst, sah jedoch zu seinem Erstaunen ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht seines Großvaters. Bemüht, sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen, trat er näher zu ihm und betrachtete das Buch. Es war leer, vollständig leer.
Wie konnte das sein? Das Buch hatte seine Hülle verlassen. Weshalb hatte es das getan? Er war nicht fertig mit ihm gewesen. Fand es trotzdem den Weg in sein Schutzbuch?
»Du darfst ins Haus zurück. Du kannst zukünftig dort in der Bibliothek arbeiten. Die Perfecti versammeln sich heute Abend. Ich erwarte, dass du an der Versammlung teilnimmst.«
Nathan nickte. Dann folgte er seinem Großvater zum Ausgang des Archivs.
Im Vorübergehen strich er über das Buch, das seinen Text freiwillig aufgegeben hatte.
»Danke«, flüsterte er. Noch Stunden später fragte er sich, ob der Windhauch, der ihn gestreift hatte, nur seiner Einbildung entsprungen war. Das Buch hatte seinen Widerstand aufgegeben und ihn vor dem Zorn seines Großvaters bewahrt. Seine Chancen, Lucy zu helfen, hatten sich dadurch vervielfacht.
Die Buchdruckerkunst ist die Artillerie des Denkens.
Antoine de Rivarol
15. Kapitel
Zwei Stunden später hielt Lucy vor einem ehemaligen Pfarrhaus in Creech St. Michael. Das Bed & Breakfast-Hotel lag abgelegen genug, dass Lucy sich einigermaßen sicher fühlte. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung zum Landsitz der de Tremaines.
Lucy nahm ihre Tasche aus dem Auto und lief durch den Nieselregen zum Eingang der Pension. Wieder sagte sie ihr Sprüchlein von dem gestohlenen Pass auf, den sie in den vergangenen Tagen professionalisiert hatte. Auch dieses Mal klappte die Anmeldung mit einem falschen Namen problemlos. Sie bezahlte und ging sofort auf ihr Zimmer. Dort zog sie das Telefon aus der Tasche und wählte die
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