Gesponnen aus Gefuehlen
französische Nummer, die Marie ihr gegeben hatte. Sie hoffte, dass sie Miss Olive direkt erreichte. Ihre Französischkenntnisse tendierten gegen null. Sie ließ es mehrfach klingeln, ohne dass am anderen Ende abgehoben wurde. Resigniert legte sie auf.
Was Miss Olive von ihr wollte? Auf der Fahrt nach Cornwall war es ihr immer dringlicher erschienen, sie anzurufen. Nun musste sie es später erneut versuchen. Lucy stand auf und trat zum Fenster. Hinter dem alten Gebäude erstreckte sich ein stattlicher Garten, der von einigen wenigen Lichtern erleuchtet wurde. Lucy öffnete die Fensterflügel und ließ die Nachtluft herein. Trotz des Nieselregens war es erstaunlich mild. Sie dachte an ihre Mutter. Du darfst ihn nicht gehen lassen, hatte sie ihr aufgetragen. Er gehört zu dir, hatte sie gesagt. Hatte sie wirklich Nathan damit gemeint? Lucy war es so logisch erschienen, aber sie war auch ziemlich verwirrt gewesen. Die Situation hatte sie vollkommen überfordert. Und Nathan? Tja, er war eben da gewesen. Er hatte sie festgehalten und getröstet. Reichte das, um ihm zu vertrauen?
Bekümmert atmete sie die frische Luft ein. Sie fühlte sich so allein. Was tat sie eigentlich hier? Es war so unvernünftig, sich absichtlich in die Höhle des Löwen zu begeben. Sie hatte in den letzten Tagen oftmals überlegt, woanders hinzufahren. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, wen sie noch um Hilfe bitten konnte. Leider fiel ihr niemand ein. Es gab nur Nathan. Er war es von Anfang an gewesen. Sie war kein sonderlich vertrauensseliger Mensch. Normalerweise dauerte es eine Weile, bis sie jemanden in ihr Herz ließ. Mit Nathan war es anders gewesen. Trotz seiner ablehnenden und sogar arroganten Art hatte sie sich von Anfang an zu ihm hingezogen gefühlt. Ihn hatte sie ins Vertrauen gezogen. Sie hatte ihm Dinge erzählt, die sie nicht einmal ihren besten Freunden anvertraut hatte. Weshalb? Es hatte sich richtig angefühlt. Womöglich war ihr sein Verrat deshalb umso furchtbarer erschienen.
Trotzdem musste sie wissen, ob es ihm gut ging, bevor sie weitere Pläne schmiedete. Die Bücher hatten ihr seine Eltern gezeigt und sie aufgefordert, ihm davon zu erzählen. Also konnte es nicht falsch sein, dass sie zu ihm fuhr. Auch wenn die Angst von Meile zu Meile, die sie sich zwangsläufig auch Batiste näherte, intensiver wurde. Lucy schloss das Fenster und beschloss, sich etwas zum Essen zu besorgen.
Als sie zurückkam, hörte sie schon durch die Tür ihr Telefon klingeln. Sie riss die Tür auf und stürmte hinein. Atemlos griff sie nach dem Handy und meldete sich.
»Du solltest dich nicht mit deinem Namen melden, Kind«, erklang eine vorwurfsvolle Stimme von der anderen Seite.
»Entschuldigung«, keuchte Lucy atemlos. »Miss Olive. Ich bin so froh, Sie zu hören.«
»Wo bist du? Kannst du sprechen? Bist du in Sicherheit?«
Das waren merkwürdige Fragen für die alte Frau. Lucy hatte vermutet, dass sie völlig durcheinander war, wegen der verbrannten Bücher. Aber danach klang die feste Stimme nicht.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete sie zögernd.
»Ich muss dringend mit dir sprechen. Offenbar bin ich dir eine Erklärung schuldig. Das mit Madame Moulin tut mir leid.«
»Woher wissen Sie …?«
»Das ist jetzt nicht wichtig, Lucy. Ich bin deine Wächterin. Normalerweise wäre deiner Mutter die Aufgabe zugefallen, doch da diese sie nicht erfüllen konnte, haben die Bücher mich gewählt.«
Wächterin? Was sollte das bedeuten, fragte Lucy sich, unterbrach Miss Olive aber nicht.
»Die Wächterin hat die Pflicht, eine neue Hüterin in ihre Aufgabe einzuweihen.«
»Sie können mir sagen, was ich tun muss?« Lucy war ganz aufgeregt bei diesem Gedanken. »Sie wissen, wie ich die Bücher befreien kann? Warum haben Sie nicht früher etwas gesagt? Dann wäre nichts von alldem passiert.«
Lucy wartete auf eine Erklärung, die allerdings nicht kam.
»Wir können das nicht am Telefon besprechen. Also, wo bist du?«
»In Cornwall.«
»In Cornwall?« Die Stimme am anderen Ende überschlug sich. »Was hast du da zu suchen? Dort liegst du für Batiste de Tremaine praktisch auf dem Präsentierteller. Du wirst morgen früh sofort von dort verschwinden.«
»Wieso? Ich muss wissen, ob es Nathan gut geht.«
»Lucy. Jetzt höre mir mal zu. Den de Tremaines ist nicht zu trauen. Das weißt du, und selbst wenn Nathan de Tremaine dich um seinen eleganten Finger gewickelt hat, musst du dich unter allen Umständen von ihm fernhalten. Es wird für euch
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