Gesprengte Ketten
fallen.
Manfred Wieland fuhr in die Tiefgarage hinunter. In dem M oment, in dem er aus dem Aufzug trat, stieg Frau Dr. Michaela Wendt aus ihren Landrover. Die Tierärztin grüßte freundlich zu ihm hinüber und wollte sich dem Aufzug zuwenden, der in den Seitenflügel des Hauses führte, in dem ihre Praxis lag.
"Einen Moment bitte, Frau Doktor Wendt", bat Manfred Wi eland und ging ihr entgegen. Wie hübsch sie heute wieder aussieht, dachte er und war froh, dass seine Frau nicht ahnte, wie sehr ihm Michaela Wendt gefiel. Er schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Jemand hatte ihm gesagt, dass sie verwitwet war und einen kleinen Sohn hatte. An diesem Morgen trug sie ihre dunkelblonden Haare im Nacken mit einer Spange zusammengefasst. Ihm gefiel ihre sportliche Kleidung.
"Ja, Herr Wieland?" Michaela Wendt hatte längst bemerkt, dass der Hausmeister für sie schwärmte. Er tat das mit geradezu rührender Hilflosigkeit. Sie mochte ihn und hielt ihn für einen netten Kerl, der ziemlich unter den Pantoffeln seiner Frau stand. Andererseits war sie sich sicher, dass Manfred Wieland zu den Männern gehörte, die ohne die Hilfe ihrer Ehefrau nichts auf die Reihe brachten.
"Meine Töchter haben seit Ostern ein Zwergkaninchen", sagte er. "Ich würde es Ihnen gern einmal zeigen. Mir kommt es vor, als wären seine Zähne viel zu lang."
"Das kommt bei Kaninchen öfters vor", erwiderte Frau Dr. Wendt. "Am besten, Sie bringen mir nachher das Kaninchen. Ich we rde ihm die Zähne auf die richtige Länge kürzen."
"Tut das dem Kaninchen weh?"
"Nein, seien Sie unbesorgt, Herr Wieland", versicherte die Tierärztin. Sie wies auf den Wagen, der in die Tiefgarage fuhr. "Da kommt Ihre Frau."
"Danke, Frau Dr. Wendt." Manfred Wieland tippte an seine Mü tze.
Gesa Wieland stellte ihren Wagen auf den Parkplatz und stieg aus. Spöttisch schaute sie der Tierärztin nach, die den Aufzug betrat. Ihr war nicht verborgen geblieben, dass ihr Mann einiges für Michaela Wendt übrighatte. Das bekümmerte sie jedoch nicht, denn die wusste, dass er ihr niemals untreu werden würde. "Nah, was habt ihr denn zu besprechen gehabt?", erkundigte sie sich mit einem hintergründigen Lächeln.
"Ich habe sie nur wegen Charlies Zähnen gefragt", antwortete er hastig. "Ich soll Charlie vorbeibringen, damit sie ihm die Zähne ein Stückchen abschneiden kann."
"Tu das", forderte sie ihn auf, beugte sich in den Wagen und nahm die Tüte mit den Einkäufen heraus. Resolut drückte sie i hrem Mann die Tüte in die Hände. "Wenn du sowieso auf dem Weg nach oben bist, um Charlie zu holen, kannst du gleich die Lebensmittel in die Wohnung bringen", meinte sie, nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und folgte ihm zum Aufzug.
* * *
Celine Barth betrat das Wartezimmer. "Laura, bitte!"
Laura Ravens klappte die Zeitschrift zu, in der sie gelesen ha tte, legte sie auf den Tisch zurück und folgte der Sprechstundenhilfe in den Gang hinaus.
"Zimmer eins." Celine schenkte der jungen Frau ein Lächeln. "Doktor Marquard kommt in wenigen Minuten."
Laura setzte sich auf einen der Stühle, die vor dem Schreibtisch des Arztes standen. Nachdem bei der Blutsenkung außer einer leichten Anämie nichts festgestellt worden war, hatte Dr. Marquard sie noch zu einem Internisten überwiesen. Sie war überzeugt, dass auch er, wie all die Ärzte, die sie zuvor aufgesucht hatte, nichts gefunden hatte, wodurch sich ihre Beschwerden erklären ließen.
An diesem Vormittag fühlte sie sich so müde und abgespannt, als hätte sie seit Wochen nicht geschlafen. Ohne sich dessen ric htig bewusst zu sein, schloss sie die Augen. Einmal so richtig ausspannen können, wie wunderbar wäre das gewesen! Vor drei Jahren hatte sie das letzte Mal Urlaub gemacht. Damals war ihre Mutter auch noch nicht so unbeholfen gewesen und hatte sich um einen großen Teil des Haushalts selbst gekümmert.
Dr. Julian Marquard schloss die Tür des Sprechzimmers hinter sich. "Hallo!"
Laura schreckte auf. Sie errötete. "Ich habe nicht geschlafen", sagte sie hastig.
"Und selbst wenn Sie geschlafen hätten, wäre nichts dabei g ewesen", antwortete der Arzt und reichte ihr die Hand. "Sie sehen müde aus."
"Das bin ich auch", gab die junge Frau zu und verzog das G esicht. "In meinem Alter sollte man noch nicht Tag und Nacht müde sein. Ich fühle mich so ausgebrannt, so..." Sie hob die Schultern. "Können Sie mir etwas gegen diese Müdigkeit verschreiben?"
Der Arzt schüttelte den Kopf. "In diesem Fall würde ich nur die
Weitere Kostenlose Bücher