Geständnis
zahlloser
Beleidigungen. Das Verfahren ist noch anhängig.
Stunden später, als das Licht längst ausgeschaltet war und
Stille über dem Haus lag, starrten Keith und Dana in die Dunkelheit
und überlegten, ob sie Schlaftabletten nehmen sollten. Sie waren
beide vollkommen erschöpft, aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie
konnten und wollten nicht noch mehr über den Fall lesen und
diskutieren, sie wollten sich nicht mehr um einen jungen Schwarzen
in der Todeszelle sorgen, von dem sie bis zum Vortag nie etwas
gehört hatten. Aber am meisten frustrierte sie der Gedanke an
Travis Boyette. Keith war sicher, dass er die Wahrheit sagte. Auch
Dana tendierte zu dieser Ansicht, war aber aufgrund seines
abscheulichen Verbrechensregisters noch nicht ganz überzeugt. Sie
konnten und wollten nicht mehr darüber streiten.
Falls Boyette die Wahrheit sagte, waren sie dann die einzigen
Menschen auf der Welt, die wussten, dass Texas im Begriff war, den
Falschen hinzurichten? Und wenn das so war, was konnten sie tun?
Wie konnten sie etwas tun, wenn Boyette die Wahrheit nicht zugeben
wollte? Aber was sollten sie tun, wenn er seine Meinung änderte?
Slone war sechshundert Kilometer entfernt, und sie kannten dort
niemanden. Wie auch? Sie hatten bis zum Vortag noch nie etwas von
diesem Ort gehört.
Die Fragen schwirrten durch das Dunkel, Antworten stellten
sich nicht ein. Sie beschlossen, bis Mitternacht den Digitalwecker
zu beobachten und dann, falls sie noch wach wären, Schlaftabletten
zu holen.
Um 23.04 Uhr wurden sie vom Telefon aufgeschreckt. Dana schlug
auf den Lichtschalter und las auf dem Display: „St. Fran.
Hospital“.
„ Er ist es“, sagte sie.
Keith nahm den Hörer. „Hallo.“
„ Tut mir leid, dass ich so spät anrufe, Reverend“, sagte
Boyette mit tiefer, angestrengter Stimme.
„ Kein Problem, Travis. Wir schlafen noch nicht.“
„ Wie geht's Ihrer süßen kleinen Frau?“
„ Gut. Travis, Sie rufen doch sicher aus einem bestimmten Grund
an.“
„ Ja, entschuldigen Sie bitte, Reverend. Ich möchte das Mädchen
so gern nochmal sehen, verstehen Sie, was ich meine?“
Keith hielt den Hörer so, dass Dana mithören konnte. Er wollte
nicht anschließend alles noch einmal wiederholen. „Ich bin nicht
sicher, ob ich verstehe, Travis.“
„ Das Mädchen, Nicole, meine kleine Nikki. Ich bin nicht mehr
lange auf dieser Welt, Reverend. Ich liege im Krankenhaus, mit
einer Kanüle im Arm und allen möglichen Medikamenten im Blut, und
die Ärzte sagen, dass es nicht mehr lange gehen wird. Ich bin halb
tot, Reverend, und es gefällt mir nicht, dass ich den Löffel
abgeben soll, ohne Nikki nochmal gesehen zu haben.“
„ Sie ist seit neun Jahren tot.“
„ Was Sie nicht sagen. Ich war dabei, schon vergessen? Es war
schrecklich, was ich mit ihr gemacht habe, es war einfach
schrecklich, und ich habe sie mehrfach um Verzeihung gebeten. Aber
ich muss noch einmal hin und ihr sagen, wie leid mir alles tut.
Wissen Sie, was ich meine, Reverend?“
„ Nein, Travis, ich habe keine Ahnung, was Sie
meinen.“
„ Sie ist immer noch dort, verstehen Sie? Sie ist immer noch da,
wo ich sie zurückgelassen habe.“
„ Sie sagten, Sie würden sie wahrscheinlich nicht mehr
finden.“
Es entstand eine lange Pause, in der Travis sich offenbar an
die Stelle zu erinnern versuchte. „Ich weiß, wo sie ist“, sagte er
dann.
„ Großartig, Travis. Nichts wie hin. Graben Sie sie aus, und
sagen Sie ihrem Skelett, dass es Ihnen leidtut. Und dann? Meinen
Sie, dass Sie sich dann besser fühlen? In der Zwischenzeit bekommt
ein Unschuldiger für Ihr Verbrechen die Todesspritze. Ich habe eine
Idee, Travis. Wenn Sie Nicole um Verzeihung gebeten haben, fahren
Sie doch in Slone auf dem Friedhof vorbei. Da können Sie Dontes
Grab aufsuchen und ihn auch gleich fragen, ob er Ihnen
verzeiht.“
Dana sah ihren Mann missbilligend an.
Travis machte wieder eine Pause und sagte dann: „Ich möchte
nicht, dass der Junge stirbt, Reverend.“
„ Es fällt mir schwer, das zu glauben, Travis. Sie haben neun
Jahre lang stillgehalten, während er angeklagt und verurteilt
wurde. Sie haben die letzten beiden Tage tatenlos verstreichen
lassen, und wenn Sie weiterhin zögern, ist die Zeit abgelaufen, und
er stirbt.“
„ Ich kann das nicht aufhalten.“
„ Sie können es versuchen. Sie können nach Slone fahren und den
Behörden sagen, wo die Leiche vergraben ist. Sie können die
Wahrheit sagen, den Ring herumzeigen, allerlei
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