Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
werden sollte, Leserbriefaktionen an die Zeitungen, um dort den Eindruck eines breiten öffentlichen Missfallens an der neuen Form des »Notizbuchs« zu erwecken, Hörerbriefaktionen an die Redaktion. Dabei sollte man den neuen Mitarbeitern schreiben, »dass ihre Sendungen schlecht sind«. Gleichzeitig sollte »den Alten geschrieben werden, wie gut ihre Sendungen sind, damit die etwas in der Hand haben«.
Das Klima in der Redaktion war so giftig, dass ich mich freute, wenn es am Morgen in der Arnulfstraße einen Stau gab und ich deswegen erst eine Viertelstunde
später ins Büro kam. Der intellektuelle Kopf des Widerstands war Gert Heidenreich, der erste Ehemann von Elke Heidenreich, die diesen Namen auch nach
ihrer Scheidung beibehielt. Später wurde er PEN-Präsident, damals war er die Symbolfigur der Linken im Bayerischen Rundfunk, ein kluger Mann, gebildet und
scharfsinnig, ein gefährlicher Gegner, der mir in seinen Sendungen offen den Krieg erklärte. »Die Gedanken sind frei«, ließ er einmal als Zwischenmusik zu
den Magazinbeiträgen spielen. In der erwähnten Versammlung der »Humanistischen Union« war er mit folgender Wortmeldung protokolliert: »Ich glaube, Reiter
nimmt an, dass die Sache in einem halben Jahr vergessen ist, wie so vieles im BR. Wir müssen dafür sorgen, dass das nicht in Vergessenheit gerät, und auch
dafür, dass Reiter weiß, dass es nicht vergessen wird. Wir müssen die Sache am Kochen halten.« Als ich das zu lesen bekam, warf ich ihn hinaus und einige
andere freie Mitarbeiter mit ihm. Der Aufschrei innerhalb und außerhalb des Hauses war beträchtlich, aber danach war Ruhe. Ich erweiterte das
Themenspektrum, gab anderen Autoren eine Chance und sorgte für Pluralität der Meinungen. Viele Jahre später schrieb Gert Heidenreich eine Biographie über
ThomasGottschalk. Er wollte mich, da ich als Gottschalks Entdecker gelte, dazu interviewen und fragte, ob er mich einmal besuchen könnte. Er kam zu mir
nach Hause, wir tranken eine Flasche Rotwein und sprachen nicht nur über Gottschalk, sondern auch über unsere Zeit beim »Notizbuch«. Er hat mir
geschildert, wie ich damals auf die Truppe gewirkt hatte. Man sah mich schlicht als Abgesandten des Bösen, konkret der CSU, mit dem Auftrag, das Gute, den aufgeklärten Journalismus, kaputt zu machen. Ich hätte lächelnd Dinge zerstört, die anderen eine Herzenssache gewesen seien. Das hat mich nachträglich doch ein wenig nachdenklich gemacht. Ich habe offensichtlich ein Defizit, wenn es darum geht, Gemütslagen anderer Leute ernst zu nehmen. Emotionale Befindlichkeiten mit rationalen Argumenten anzugreifen hilft ja nicht weiter, aber das merke ich meist erst, wenn es zu spät ist. Ich erinnere mich, als zur Blütezeit der Friedensbewegung einmal eine sogenannte Friedenskette gebildet wurde. Entlang der Autobahn von Augsburg bis nach München hatten sich die Teilnehmer aufgestellt und an den Händen gefasst. Am nächsten Tag haben einige Redakteure, die dabei waren, tief bewegt auf der Redaktionskonferenz von dieser Aktion berichtet. Walter Hanf, ein gestandener älterer Politikredakteur, hatte Tränen in den Augen, als er darüber sprach. Ich habe ihn dann gefragt, sachlich sicher berechtigt, aber emotional natürlich völlig daneben, ob er wirklich glaube, dass man durch gegenseitiges Händchenhalten den Frieden sicherer mache. Man konnte den Hass, der mir daraufhin aus der Runde entgegenschlug, förmlich spüren. Dabei hatte ich es nicht böse gemeint. Vielleicht habe ich auch hier, unseligerweise, zu viel vom »ollen Benn« gelernt. Als dieser einmal von Reinhold Schneider eingeladen wurde, auf einem Spaziergang über brennende gesellschaftliche Fragen und die rettenden Möglichkeitender Dichtung zu sprechen, gab er ihm die lieblose Antwort, er glaube nicht, dass man Probleme durch gemeinsames Herumlaufen lösen könne.
Wie auch immer, nach der »Notizbuch«-Zeit kannte man mich in Bayern, zumal meine Arbeit beim Publikum gut ankam. 1975 hatte das Notizbuch
täglich 290 000 Zuhörer, 1981 waren es 470 000. Als 1982 die Nachfolge von Gunthar Lehner als Hörfunkdirektor anstand, brachte man meinen Namen ins
Spiel. Ich war dafür viel zu jung und auch hierarchisch (ich war gerade mal Abteilungsleiter) noch längst nicht dran. Der damalige Intendant war Reinhold
Vöth, ein aufgeklärter, lebensfroher Konservativer aus Franken, der 1972 als Staatssekretär aus dem Bayerischen Arbeitsministerium in den BR kam und
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