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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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Lebensqualität zu tun haben als der Schick und die Perfektion der westlichen Lebensart.« Karola Sommerey, unsere neue Hörfunkdirektorin, die von Radio Bremen kam, hatte Ähnliches erlebt: »Ich bin zufrieden wie nie zuvor«, sagte sie in einem Interview, »trotz aller Mängel, aller Provisorien und aller Schwierigkeiten.« Der Hörfunk war damals in der Springerstraße untergebracht, in einem ehemaligen Versicherungsbau. Das Fernsehen war aufgeteilt: die Sendezentrale und die Aktualität auf dem erwähnten »Wilden Mann« in Dresden, wobei viele Mitarbeiter dort trotz aller Container keinen Platz fanden und eine halbe Autostunde entfernt in einem ehemaligen Ausländerwohnheim ihre Büros einrichteten; Unterhaltung und Fernsehspiel am anderen Ende von Dresden in Gebäuden, die dem MDR von der DEFA, dem ehemaligen Filmproduktionsunternehmen der DDR, mit täglicher Kündigungsfrist zur Verfügunggestellt worden waren; die Kultur im ostthüringischen Gera, das Studio dort war der ehemalige Festsaal der Stasi; Wissenschaft und Bildung schließlich fanden in Halle ihren Platz.
    Wir brauchten also dringend Bauplätze und Ausschreibungen für die Neubauten und für moderne Technik. Eine Verwaltung musste aufgebaut, die Programmkonzepte entworfen und diskutiert und vor allem die täglichen Sendungen in Hörfunk und Fernsehen einigermaßen abgesichert werden. Ich gab damals die Parole aus, dass die Programmausstrahlung absoluten Vorrang habe und ihr alles andere unterzuordnen sei. Nach außen hin sollte der Sender ab jetzt präsent sein. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Viele Redakteure, die das Programm machen sollten, hatten nicht einmal Schreibtische und Stühle. In Leipzig waren Büromöbel ausverkauft. Meine Leute besorgten sich daraufhin ein paar Lastwagen und kauften die Möbel, zum Teil gebraucht, in den umliegenden Städten zusammen. Fünf Jahre später bemängelte der Rechnungshof, dass wir keine vergleichenden Kostenangebote eingeholt hätten.
    Ein spezielles Problem waren die sogenannten Klangkörper, also Chöre und Orchester. Nicht weniger als sechs suchten beim MDR eine neue Heimat: das Symphonieorchester, dasRundfunkorchester, ein Rundfunkblasorchester, eine Bigband, der Rundfunkchor und der Rundfunkkinderchor. Ich bin nicht erst seit Justus Frantz ein großer Freund unserer Chöre und Orchester. Ihre Geschichte ist ja eng mit der Entwicklung des Rundfunks verbunden. In der Anfangszeit des Radios gab es noch keine »Tonträger«, also Schallplatten oder Tonbänder. Wenn unsere früheren Kollegen Musik senden wollten, mussten sie die Akteure vor das Mikrofon setzen und spielen lassen. Aus dieser Notlage heraus entstanden Rundfunkchöre und Rundfunkorchester. Das Leipziger Orchester wurde schon 1923, ein Jahr vor Sendebeginn, gegründet. Es ist das älteste in Deutschland. Aber abgesehen davon, dass man heute kein Live-Orchester mehr braucht, um Musik zu senden – sechs Klangkörper waren einfach zu viel. Der Leipziger Rundfunkchor war weltberühmt und unantastbar. Der Kinderchor kostete fast nichts. Rundfunksymphonieorchester und Rundfunkorchester konnten fusionieren. Die beiden anderen waren nicht zu retten. Das war für die Musiker schlimm. Sie nahmen es mir auch persönlich übel. Eine Zeit lang spielten sie jeden Morgen, wenn ich ins Büro kam, vor dem Eingang in der Springerstraße in schwarzen Anzügen und mit bösen Gesichtern einen Trauermarsch.
    Gerettet haben wir dagegen das 1962 gegründete Fernsehballett des DDR-Fernsehens, nicht zuletzt weil es für die Zuschauer in der DDR eine vertraute und geliebte Einrichtung war. Die MDR-Tochter Drefa übernahm 1992 vierzig Prozent der Anteile. Weitere dreißig Prozent gingen lustigerweise über die Tellux Beteiligungsgesellschaft in den Besitz der katholischen deutschen Bistümer über. Ich habe den Münchner Kardinal Wetter einmal gefragt, ob er wisse, dass wir gemeinsam ein Ballett betreiben. Er hielt das für einen unangebrachten Scherz und war nur durch Vorlage einer Gesellschafterliste zu überzeugen. Mein Angebot, die Mädels einmal bei der Deutschen Bischofskonferenz auftreten zu lassen, wollte er gleichwohl nicht annehmen. Dieses Ballett erreichte in den folgenden Jahren an die 140 Millionen Zuschauer jährlich und wurde auch im Westen zunehmend bekannt und beliebt. Ich habe die Tänzer immer bewundert. Sie betrieben ihr Geschäft mit unglaublicher Leidenschaft. Schlecht bezahlt, ohne ordentliche Altersversorgung und mit der Gewähr,

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