Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
gegangen. Wir rückten noch enger zusammen, und ichbat Frau Köhler um einen weiteren Topf Punsch. Nach einiger Zeit tat er seine Wirkung. Die Mienen wurden lockerer, wir kamen in Weihnachtsstimmung und wurden alle langsam besoffen. Nach einer guten Stunde waren sie so weit. Sie fuhren zurück nach Dresden (mit Fahrer natürlich) und wollten es nochmals versuchen.
Am 31. Dezember um Mitternacht gingen alle Programme des MDR auf Sendung. Gleich zu Beginn gab es im Fernsehen zwar einen Schaltfehler. Statt unserer Ansagerin hörte man die Neujahrsansprache des Kollegen Rosenbauer vom ORB, aber dann meldeten sich Chefredakteur Wolfgang Kenntemich und Moderatorin Viktoria Herrmann wie geplant vom Platz vor der Leipziger Nikolaikirche, und die Sache nahm ihren Lauf.
Am Abend des 1. Januar fand im Leipziger Gewandhaus das große Eröffnungskonzert statt. »Tönet, ihr Pauken, erschallet, Trompeten …« war das Motto. Unser erster öffentlicher Auftritt. Für Gäste aus den alten Bundesländern wurde zur Anmeldung eine Faxstation in Krefeld eingerichtet, für Gäste aus den neuen Ländern stand ein Faxempfänger in Ostberlin bereit.
Es war ein eindrucksvolles Konzert. Vom Ministerpräsidenten abwärts war jede Menge Prominenz angereist. Der Rundfunkchor, der Rundfunkkinderchor, das Rundfunksymphonieorchester, der Gewandhauschor, das Gewandhausorchester, die Hallenser Madrigalisten und das Thüringische Kammerorchester spielten und sangen Werke von Wagner, Händel, Bach und Mendelssohn Bartholdy. Dirigiert haben Gert Frischmuth, Max Pommer, Daniel Nazareth und Kurt Masur. Ich habe die Begrüßungsrede gehalten. Es war alles sehr feierlich. Zum anschließenden Empfang mussten wir allerdings durch die kalte Winternacht hinüber ins Rathaus, weil Kurt Masur, der Hausherr im Gewandhaus, prinzipiell nicht erlaubte, dass dort gegessenund getrunken wurde. An der Stirnseite des Konzertsaals steht dementsprechend etwas sauertöpfisch »Res severa verum gaudium« (Nur eine ernste Sache ist ein wahres Vergnügen). Inzwischen sieht man das etwas lockerer.
Meine Tochter Franziska, damals zehn, hat schlechte Erinnerungen an dieses Konzert. Sie war mit meiner Frau und dem Dackel Bazi nach Leipzig gekommen. Dieser Bazi, eigentlich ein netter und lustiger Hund, der in meinen Rottbacher Tagen immer gern mit mir Rollstuhl gefahren ist, war damals schon uralt und senil. Das drückte sich unter anderem darin aus, dass er nur noch links herum im Kreis gehen konnte. Nun wollte es der Zufall, dass bei meiner damaligen Bleibe, einem kleinen Häuschen in Sehlis, links vor der Haustür ein Gartenteich war. Franziska ließ den Hund vor die Tür, er ging eisern nach links. Es war kalt, 1. Januar. Meine Frau, schon im Festgewand, zog ihn mit Mühe aus dem Teich. Wir legten ihn in sein Körbchen und deckten ihn warm zu. Aber er atmete schon ziemlich schwer und als wir vom Konzert zurückkamen, war er tot. Mein Hinweis auf sein biblisches Alter half natürlich nichts. Meine Tochter hat heftig geweint und mich und den MDR für den Trauerfall verantwortlich gemacht.
Vergleichende Angebote
Trotz des gelungenen Eröffnungskonzerts waren wir noch lange kein normaler Sender. Den Sendebeginn hatten wir aus dem Boden gestampft, aber es hakte an allen Ecken und Enden. Ein Zeitungskollege besuchte unsere Fernsehniederlassung am »Wilden Mann«, einem ehemaligen Gasthaus in Dresden. Er schrieb: »Bild- und Tonregisseure kauern hinter verwittertem Fachwerk unter Dachschrägenknapp über ihren Köpfen. Im Studio rollten anfangs auf dem schiefen Betonboden die Kameras davon. Jetzt stehen sie auf waagerecht verlegten Spanplatten mit einer Mischung aus feingemahlener Schlacke und Kunststoffflocken darunter. Damit der Straßenlärm nicht in die Mikrofone dringt, wurden die Wände mit Teppichböden behängt. Redakteure basteln an ihren Filmen in besenkammerähnlichen Verliesen, eines davon war früher ein Klo. Sommers schmoren sie in der Hitze, winters schlittern sie mit ihren Bändern über Glatteis von einem Behelfsbau zum andern. In einem früheren Schafstall lagern die teuren Kameras und die Messtechnik. ›Da kann man‹, sagt ein Redakteur, ›die Tür mit einem Messer aufbrechen.‹«
»Dennoch«, so konterte ich in einer ARD-Broschüre, »fehlt bei uns die geschmerzte Larmoyanz mancher westlichen Funkhäuser. Die Aufbausituation ermöglicht Erfahrungen und Erlebnisse, die es in den alten Ländern längst nicht mehr gibt und die möglicherweise mehr mit
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