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Gestern fängt das Leben an

Gestern fängt das Leben an

Titel: Gestern fängt das Leben an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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dass das Thema hiermit erledigt war.
Soll Vivian ihn doch selbst drangsalieren,
dachte ich.
Ich will nur auf seinem Zug mitfahren und den Fahrtwind genießen.
Denn das genoss ich bei Jack jetzt am allermeisten: wie glatt und leicht und unkompliziert sich das Leben an seiner Seite auf einmal anfühlte.
    «Wo lebt deine Mutter jetzt eigentlich?», fragte Jack in der Absicht, zu einem vermeintlich weniger heiklen Thema zu wechseln.
    «Hier in der Nähe, glaube ich. Zumindest der Vorwahl nach müsste sie hier irgendwo wohnen.» Ich sah zu dem verschmierten Taxifenster hinaus und fragte mich, wie oft ich wohl, ohne es zu wissen, an ihrer Wohnung vorbeigegangen war, wie oft ich sie nur knapp verpasst hatte, beimEinkaufen oder im Fitnessstudio oder in der Reinigung. Ich schüttelte den Kopf.
    «Es ist jetzt fast achtzehn Jahre her», sagte ich, eher zu mir selbst als zu Jack. «Ich glaube nicht, dass ich ihr viel zu sagen habe. Ich wusste ja nicht mal, dass sie noch lebt.»
    Die Wahrheit ist, dass ich damals, als meine Mutter mit fliegenden Fahnen die Familie verließ und uns dabei nichts als einen schäbigen Zettel hinterließ, als mein Bruder und ich zu ihrem Schrank rannten, ihn aufrissen und leer vorfanden, nie wirklich nach ihr gesucht habe. Ich hatte um ihre Rückkehr gebetet, ja, aber da war ich neun. Ich hatte Zettel bemalt und an die Telefonmasten und Gartenzäune in unserer Gegend geklebt. Aber mein Vater hatte mir sanft erklärt, dass sie ja eigentlich gar nicht richtig «vermisst» war. Irgendwann gab ich es einfach auf, sie zu uns zurückzulotsen wie einen Drachen, der sich im Baum verfangen hat – und nach sechs Monaten hörte ich sogar auf zu beten. Sie war davongelaufen. Und anstatt Gott darum zu bitten, sie uns zurückzugeben, füllte ich mein präpubertäres Hirn mit den verschiedensten Gründen, weshalb sie uns verlassen hatte: Weil ich nicht dankbar genug für meine letzte Geburtstagsparty gewesen war; weil ich eine Drei in Erdkunde hatte; weil sie mich immer bitten musste, mein Zimmer aufzuräumen und nie mit dem Ergebnis zufrieden war   … Und schon bald war ich randvoll mit Schuldgefühlen und wusste genau, dass sie nicht wiederkam, weil
ich
sie zurückgewiesen hatte. Warum sollte sie auch zu einem so verwöhnten und verdorbenen Kind zurückkommen wollen?
    Das Schweigen meines Vaters bot nur wenig Trost.
    Aber irgendwann, während ich mich vom Kind zum Teenager mauserte, wandelten meine Gefühle sich inFeindseligkeit, Verbitterung und tiefen Groll. Und ich schwor mir, sie völlig aus meinen Gedanken zu löschen. Was mir lange Zeit auch ganz gut gelang.
    Deshalb war mir auch nie die Idee gekommen, sie könne nur ein paar Kilometer von mir entfernt leben. Sie war also nie richtig weit weg gewesen.
    «Tja, vielleicht solltest du sie anrufen», schlug Jack vor, als das Taxi an einer Ampel abrupt zum Stehen kam. «Aber das musst du selber wissen.»
    Natürlich muss ich das selber wissen!,
hätte ich ihm fast ins Gesicht geschrien, bis mir klarwurde, dass ich schließlich nicht auf
ihn
sauer war. Aber das war typisch für mich. Ich reagierte lediglich so, wie ich es immer getan hatte: indem ich sofort in Verteidigungsposition ging. Auch Henry gegenüber war ich schnell aggressiv, wenn es um meine Mutter ging.
    Wenn er mir zum Beispiel abends über einem Teller Nudeln völlig unvermittelt vorschlug: «Mach dich endlich auf die Suche nach deiner Mutter. Du bist verrückt, wenn du sie nicht ausfindig machst», dann kam das für mich jedes Mal einem Angriff aus dem Hinterhalt gleich.
    «Wieso denn verrückt?», schoss ich dann zurück, sobald ich nach dem Überraschungsangriff meine Sprache wiedergefunden hatte. «Sie ist eine Frau, die bewusst nicht Teil meines Lebens sein wollte, die beschlossen hat, ich wäre besser ganz ohne Mutter dran als mit
ihr
als Mutter.»
    «Aber sie ist nun mal deine Mutter!», sagte Henry dann im Brustton der Überzeugung. «Zählt das denn gar nicht?»
    Woraufhin ich vor Wut schäumte und die Küche verließ, um vor beiden zu fliehen: vor meinem Mann, der offensichtlichkeine Ahnung hatte, was das Beste für mich war, und vor dem Gespenst meiner Mutter.
    Und deshalb fiel es mir heute Abend bei Jack auch so schwer, nicht wütend auf seine harmlose Bemerkung zu reagieren, obwohl ich weiß, dass er weder mich noch meine Entscheidung kritisieren würde. Himmel, ich weiß doch nicht mal, ob mein innerer Konflikt überhaupt richtig bei ihm ankommt! Die Bindung an seine Mutter war

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