Gestern, heute - jetzt
die Rebstöcke sonderlich gerade gesetzt hätte.
Aber immerhin waren sie eine Verbindung zu ihrer Heimat – eine, die sie in jedem Fall wiederbeleben würde. Sie vermisste Caverness, das konnte sie nicht leugnen. Sie vermisste die Aufgaben und Pflichten, die ihr in dem Champagner-Imperium zufielen, und sie vermisste die Menschen, mit denen sie normalerweise arbeitete. Sie vermisste Lucien und Gabrielle und ihr Lieblingscafé. Sie vermisste die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können. Überallhin zu gehen, wann immer sie wollte, egal welches Fahrzeug gerade zur Verfügung stand.
Falls es in Maracey so etwas wie eine Außenwelt gab, hatte sie diese noch nicht entdeckt.
Wenn auch hier Freiheit existierte, so war sie ihr noch nicht zuteil geworden. Die hohen, klosterähnlichen Hecken, die das Weingut umgaben, verstärkten noch ihr Gefühl des Eingesperrtseins, aber zumindest der Himmel war weit, und der Blick über das Tal streichelte die Seele.
Rafael konnte dieser Tage nicht mal das genießen.
Simone riss einen Ableger heraus und warf ihn in die Schubkarre. Sehr zu Rubys Freude verfehlte sie jedoch das Ziel. Simone versuchte, dem Welpen beizubringen, das danebengegangene Grünzeug aufzusammeln und in die Schubkarre zu bugsieren, aber Ruby erwies sich als erstaunlich lernresistent. Alle Ableger, Äste und anderweitiges Unkraut legte sie in der Hoffnung vor Simones Füßen ab, diese würde sie ihr erneut zuwerfen.
Hinter ihnen raschelten die Blätter. An sich nichts Ungewöhnliches, wenn ein gewisser Wind wehte.
Es war nur absolut windstill.
Simone fasste die Hecke scharf ins Auge, die ebenfalls dringend geschnitten werden musste – allerdings mit einer Laubsäge und nicht mit einer einfachen Gartenschere. Ruby interessierte sich kein bisschen für die Hecke, denn sie hatte nur ihr Spiel mit den Ablegern im Sinn.
Simone wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Schau“, hörte sie ein leises, kindliches Wispern aus der Hecke kommen. „Es ist die Prinzessin.“
„Prinzessinnen beschneiden keine Weinstöcke“, murmelte eine zweite Stimme, deren leicht dunkleres Timbre deutlich machte, dass es sich um einen Jungen handelte.
„Doch, das tun sie.“
„Egal“, erwiderte der Junge, „Mama sagt, dass sie keine Prinzessin ist, so lange sie den Prinzen nicht heiratet, und er ist gar kein richtiger Prinz, so lange der König es nicht bestimmt.“
„Trotzdem ist sie es“, beharrte das kleine Mädchen.
Sehr guter Einwand, dachte Simone. Da gab es nichts herumzudeuten. Wunderbar weibliche Logik. Die Kleine hatte Potenzial.
„Rutsch ein Stück.“ Erneut raschelten die Blätter. Ruby spitzte die Ohren, doch ihr Blick blieb unbeweglich auf das Grün in Simones Hand gerichtet. Ein toller Wachhund.
„Pst! Du machst zu viel Krach“, schimpfte das kleine Mädchen. „Sie wird uns sehen.“
Eine weitere gute Bemerkung, fand Simone. Aber Jungs blieben nun mal Jungs. Die Blätter teilten sich. Zwei neugierige Kindergesichter mit großen runden Augen guckten hervor.
Simone hob eine Augenbraue und blickte die beiden an.
Der Junge grinste, und irgendetwas in diesem Lächeln erinnerte sie an einen anderen Jungen, vor vielen Jahren, an einem sonnigen, strahlenden Tag.
„Lauf, Melie, lauf. Wer zuerst am Tor ist“, wisperte er, und dann schlossen sich die Blätter, und die zwei waren verschwunden.
Lauf.
Wie oft hatte sie diese Worte in ihrer Kindheit gehört?
Wer zuerst …
Am Tor, an den Hügeln oder den Schlossmauern war. Erinnerungen brachen über sie herein, bunt und lebhaft. Mit einem Schlag reiste sie gedanklich Jahre zurück und sah eine andere Gruppe frecher Kinder vor sich, die im Schatten der Schlossmauer spielten. Wenn sie nicht vor Ärger davonliefen, dann diskutierten sie erst, wie die Rennstrecke aussah, wer einen Vorsprung bekam und was die Verlierer den Gewinnern geben mussten.
Wenn Rafael Einsätze einbrachte wie „den Fußboden im Porträtsaal schrubben“ oder „jedes Fenster im Wintergarten putzen“, dann hatte sie immer gewusst, dass Gabrielle genau jene Aufgaben von ihrer Mutter zugeteilt bekommen hatte. Rafe hatte jedes Mal freiwillig verloren und die Aufgaben übernommen. Ein einziger Blick von ihm hatte genügt, dass auch Simone und Luc ihre Rennen verloren.
Die Kinder von Caverness beschützten sich gegenseitig.
Irgendwann waren sie natürlich erwachsen geworden, aber es war schwer, so manche Angewohnheit abzulegen.
Auch jetzt tat Simone alles erdenklich Mögliche, um Rafael
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