Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
dass sie immer sagt, ich solle sie gewinnen lassen.
Auch an diesem letzten gemeinsamen Tag kommt zuerst die Arbeit, die sie inzwischen ruhig verrichten kann. Mit geübten Griffen, schnellen Bewegungen, Kopfhörer auf den Ohren, Blick auf unendlich, inzwischen kann sie das stundenlang.
Wir sitzen am Fließband, vor uns die Kartons, und stapeln Dose für Dose hinein in die Pappschachtel. Acht Stunden lang, nach der Hälfte der Zeit machen wir eine Stunde Pause. Wir hatten uns schon Weihnachten für diesen Arbeitsurlaub verabredet: Fünf Wochen am Sommerende in einer Fischkonservenfabrik an der Nordsee. Wir brauchen beide das Geld. Svana für Budapest, wo sie jetzt hingeht. Ich für mein Zimmer in Hamburg.
In der ersten Woche war Svana nur entrüstet. »So eine Scheiße«, hat sie gerufen und sich in der Mittagspause mit den anderen, die hier arbeiten, angelegt: »Wie könnt ihr das aushalten, wie könnt ihr nur. Acht Jahre hier, da wirste doch blöde.«
Die erste Woche war die schwierigste. Svana zu erleben, wie sie hier hineinwirbelte und nicht stillhalten konnte. Wie sie mit jedem sprach und alles wissen wollte. Als sei sie zu spät gekommen und müsste etwas aufholen. Wie sie alle Regeln erfragte, alle Abläufe und Hierarchien im Betrieb. Ich weiß nicht mehr, wie viele der freien Abende sie im Internetcafé verbrachte. Ich saß draußen, rauchte und sah ihr zu, wie sie sich vornübergebeugt durch NGO-Foren, Lexika und Gewerkschaftsseiten las. Nachts im Bett hielt sie mir Vorträge über Arbeitsrecht.
Ich erinnere mich genau an den Moment, als sie sich an einem Morgen in der Raucherpause plötzlich traute. Sie stand auf, stellte sich vor das leise dudelnde Radio in der Kaffeeküche und hielt mit einer etwas unsicheren Stimme ihre kleine Rede. Die hatte sie heimlich schon den ganzen Morgen beim Dosenstapeln neben mir vor sich hingeflüstert, ohne dass ich etwas verstehen konnte. Sie hatte schwungvoll und mutig begonnen, sprach von Rechten und Möglichkeiten und Veränderungen, aber dann wurde sie immer leiser. Und als sie fertig war, nach vielleicht drei Minuten, drückten die anderen ihre Kippen aus, räumten ihre leeren Tassen in die Spülmaschine und gingen wieder in die Halle. Keiner sagte ein Wort, Svana setzte sich hin und sah mich an und sagte: »Na ja.«
Ein paar Tage später hatte sie die Idee, sie könne jeden Samstag ein wenig Deutschunterricht geben, aus Trotz oder aus Überzeugung. Sie klebte eine Liste an die Tür. Am Freitag hatten sich tatsächlich vier Leute eingetragen. Gekommen ist keiner.
Ja, es gibt Niederlagen. Es gibt immer Niederlagen. Das hat mit den Ambitionen zu tun, mit den Idealen. Nie stellt man sich das Zweitbeste vor, und manchmal muss man eben zurückstecken.
Aber es gibt auch Siege. Und die sind der Beweis: Niederlagen sind richtig. Nicht nur im Sinne von: Ich hab es wenigstens versucht. Sondern auch im Sinne von: Es gibt Niederlagen, weil es Siege gibt, weil es Ideale gibt.
Man muss nur lernen, wie lange man aushalten kann. Es darf nicht über die eigene Kraft gehen. Aber wenn man die Kraft hat und man dran glaubt, dann muss es sein. Kann schließlich auch mal gut gehen, kann ja vielleicht auch was bringen. Gibt immer wieder auch Siege.
Herbst, das ist irgendwie auch Laub und bunt und rau. Herbst ist Regenjacke und zerwühltes Haar. Herbst ist kalte Finger, dicke Socken und die Zeit vor dem Frost, ist das, was übrig bleibt. Die Vögel sammeln sich auf Wiesen, Äckern oder Seen, bilden Schwärme, hauen ab. Fliegen irgendwo anders hin und man selbst sitzt so da, bleibt hier in der Kälte, im Regen, wartet einfach ab. Herbst ist immer auch ein bisschen Abschied. Die Tage werden kürzer, dunkler, frischer. Herbst ist Thermoskanne, Gegenwind und Drachensteigenlassen. Herbst ist Mütze und Kakao, raue Lippen und Spinnennetze im Gras. Laufende Nase und halbstarke Kälber, die Küken zählt man erst im Herbst , sagt man.
»Irgendwann schluck ich ja alles«, sagt Svana, »dann les ich eben mein Buch und träum, wenn im Bus wieder keiner zurücklächelt. Dann hör ich eben Musik, wenn sie lästern und meckern. Weißt du: Ich schlucks, ich halts Maul irgendwann. Aber ich habs aufgemacht, als noch nicht klar war, dass sie weitermeckern würden und grimmig gucken. Man muss es einfach immer wieder probieren.«
Sie hat den Herbst gewonnen. Ich gratuliere ihr, nehme sie dazu in den Arm und halte sie. Auch das ist dumm irgendwie, denn dahinter versteckt sich der
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