Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
Vom Netzwerk:
Geschwister hat, woher das ganze Geld kommt. Russland, hat sie mal gesagt. Warum nicht Russland. Und manchmal erzählte sie eben diese Geschichte über ihre taubstummen Eltern, aber das war erfunden, da bin ich sicher, schon deshalb, weil ihre Eltern jedes Mal anders hießen und woanders wohnten. Aber sie hatte diese Kassette mit den komischen Geräuschen darauf. Erst Stille, dann Geklimper, röchelnde Laute, Japsen, Lachen, das wegsickert oder aufgurgelt, in ein Fiepen umklappt oder zu einem rhythmischen Grunzen wird. Das seien ihre Eltern, behauptete Marta, so hätten sie sich unterhalten, so habe ihre Kindheit geklungen, ob man sich das vorstellen könne. Und dann sah sie einen an, suchte nach Reaktionen. Ich habe ihr kein Wort geglaubt. Ich glaube eher, dass Marta in irgendeiner Superreichenfamilie aufgewachsen ist. Russischer Adel vielleicht oder Großindustrie oder Mafia, weiß der Teufel. Pipelines, Pelzfabriken. Villen, Autos, Kaviar. Ob Marta auf einer Schule gewesen ist? Ob sie Privatlehrer hatte oder auf einem Internat war, als reiche Waise? Vielleicht sind ihre Eltern Diplomaten. Oder Spione, irgendwo müssen sie ja stecken, die Kinder solcher Menschen.
    Marta konnte jeden bezirzen mit ihrem Grinsen, ihren Augen und ihrer Art, einem das Gefühl zu geben, dass man auf Anhieb dazugehört. Zu ihr dazugehört [und automatisch akzeptiert, dass du der Mittelpunkt bist, Marta]. Sie hat sich das angeeignet, denke ich manchmal, weil sie es gebraucht hat.
     
    Auf der Fensterbank vibrieren die Flaschen vom Beat, vom Krachen der Boxen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie runterfallen. Es ist mir egal, weil es allen hier egal ist. Marta sitzt im Flur auf dem Boden unter einer kleinen Lampe. Ich sehe ihr zu, wie sie kifft, zähle die Sekunden, wie lange sie den Rauch in ihrer Lunge hält. Marta kifft selten, das ist nicht ihre Droge, aber neben ihr sitzt Burhan, der schon seinen vierten Joint dreht, ich zähle alles mit heute Nacht. Die Wohnungstür neben ihnen geht auf und zu, vierzehn Mal, dann bleibt sie einfach offen stehen. Die Leute drängen sich im Flur, auch Martas Wohnzimmer ist schon voller Menschen. Sie sind alle vom Regen durchnässt, ziehen sich aus, werfen ihre nassen Jacken und Mäntel auf einen Haufen im Flur. Die Party läuft, die Leute tanzen und schreien sich kurze Sätze ins Gesicht, sie dampfen, die Fenster beschlagen. Ich sitze dazwischen und frage mich, was ich hier zu suchen habe. Wie lange wohnt Marta hier schon, wer hat hier schon alles mit ihr gewohnt, der Wievielte bin ich?
    Ich gehe in die Küche, vielleicht der Raum, der am wenigsten zu Marta passt. Sauber und modern, ein riesiger, silberner Kühlschrank, Edelholz, Cerankochfelder. Liviu putzt hier manchmal, er saugt Staub und wischt den Boden, ich möchte nicht wissen, wie es ohne ihn aussehen würde. Zwei Typen in Unterhemden stehen vor dem Herd, prosten sich zu, sie braten sich dicke Scheiben Filet in einer riesigen Pfanne, als würde man das eben so machen auf einer Party in einer fremden Küche. Ich hole mir Wodka und saure Gurken aus dem Kühlschrank, werfe die Tür zu. Ich höre die beiden lachen, der Kleinere klopft dem Größeren auf die Schulter, dann sagt er: »Was ist der Unterschied zwischen Marta und dem Kühlschrank?«
    Ich drehe mich zu ihnen um.
    »Keine Ahnung«, sagt der Große.
    »Der Kühlschank quatscht nicht, wenn man die Gurke rauszieht.«
    Ich mache zwei Schritte, da ist nichts in meinem Kopf, ich hole nur aus, schlage diesem Typen ohne ein Zögern fest und trocken mit der Faust ins Gesicht, mitten rein in sein Grinsen. [Marta, dass das überhaupt geht, dass man diese Schwelle überwindet, einem Menschen mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. So kenne ich mich nicht, Marta, aber das war ich in dieser Nacht.] Es klatscht, viel leiser, als ich gedacht hätte, ein lächerlich winziger Moment, und der Typ liegt, verdutzt, geschockt, stiert mich an. Der Große weicht zurück, sieht sich um, dann hilft er dem Kleinen auf die Beine. Er drückt sich langsam an der Wand hinter sich hoch und hält sich die Hände vors Gesicht. Blut. Die beiden sind geschockt, sie greifen mich nicht an, sie haben Schiss. Was denken sie, wer ich bin? Ein Verrückter, ein Junkie, ein Killer. Beide heben die flachen Hände.
    In einem großen Bogen und ohne ein Wort zu sagen geht der Kleine an mir vorbei und aus der Küche, er hält sich noch immer die Hand vor das Gesicht, den Kopf im Nacken, das Blut tropft auf sein weißes

Weitere Kostenlose Bücher