Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
einfach nicht mehr aufwachte. Dass wir im Café sitzen und Marta Kuchen bestellen und keinen Krümel mehr essen würde, dass sie quasselt und mitten im Satz kein Wort mehr aus ihrer Richtung kommt.
Marta hatte überhaupt nur ein einziges Mal mit mir über das Sterben gesprochen. Wir hatten in der Straßenbahn gesessen, ich habe noch das Rattern im Ohr, ich war hundemüde, hatte einen Kater und glotzte ohne einen Gedanken aus dem Fenster, als sie völlig unvermittelt sagte: »Wenn ich tot bin, haust du einfach ab, klar. Du musst dich nicht um irgendwas kümmern. Wenn ich weg bin, bist du auch weg. Ich will nicht, dass du dir Stress machst.«
Ich konnte erst gar nichts sagen, dann sagte ich: »Halt die Klappe, Marta!« Dabei wollte ich nichts mehr, als dass sie weiterredete. Dass sie endlich mit mir über das sprach, was offensichtlich und unausweichlich war. Aber ich wollte etwas anderes hören, ich wollte wissen, was Marta sich wünschte, wie sie sich das alles vorstellte. Ich wollte wissen, was ich dann für sie tun konnte. Ich wollte mich kümmern.
Marta blinzelte, schnaufte laut herum und so ein gelber, nichtseltener Schmetterling ließ sich auf ihrem Knie nieder. Marta sah dem Schmetterling zu, wie er mit seinen riesigen Flügeln hin und her wackelte. Es sah aus wie Auswackeln, Muskeln ausschütteln, Nachflugbewegungen. Marta lauerte und mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte ihre Hand nach dem Schmetterling, ihr Zeigefinger erwischte einen Flügel, drückte ihn fest auf ihr Knie. Der Schmetterling flatterte wild mit dem anderen Flügel, strampelte mit seinen schwarzen Beinchen, warf den Körper hin und her. Marta sagte mit ihrer Honigstimme: »Leberecht.« Und sofort kam die Ratte aus ihrer Handtasche hervorgekrochen, sah sich kurz um, witterte das gelbe Gezappel auf Martas Knie und schnappte danach.
Marta steht auf dem Balkon und raucht. Sie zwinkert mir zu, aber sie klebt an Burhan, schon seit Stunden. Sie hat nicht einmal mitbekommen, dass ich mich für sie geschlagen habe, für sie habe ich nur einen peinlichen Auftritt hingelegt. Ich kann mir denken, was Marta denkt: Saz zupfen am Bosporusufer, Sonnenuntergang, gebräunte Haut, behaarte Brust, bekiffter Tanz. Sie hängt an seinen Lippen, lacht über jeden seiner Sätze, steht und sitzt und raucht, wo immer er ist. Ich folge ihnen von Raum zu Raum, ich sehe ihnen zu. Marta will sich verlieben, sich noch ein letztes Mal verlieben. Es reicht ihr nicht, ich reiche ihr nicht, es reicht Marta nie, genau das ist ja ihr Problem, diese Maßlosigkeit. Aber jetzt, das muss ich zugeben, in diesem Zustand, ergibt es Sinn. Es ist die logische Fortsetzung. Marta nimmt sich, was noch zu kriegen ist, oder wenigstens probiert sie es, solange es noch geht. Das beste Stück vom fremden Teller, darum geht es.
Vier Mal habe ich mit Marta geschlafen. Beim dritten Mal ist das Kondom gerissen. Ich weiß nicht, ob ich was falsch gemacht habe oder woran es gelegen haben könnte. Ich weiß nur, dass ich danach Angst hatte, dass ich wirklich Angst um mein Leben hatte. Und dass ich es Marta nicht zeigen wollte, unter keinen Umständen. Ich konnte darüber nicht mit ihr reden. So wenig, wie ich ihr sagen konnte, dass ich mich ekelte, vor ihr, vor ihrem Körper. Mit dem Gummi war es möglich, ich konnte mich wegträumen, in Sicherheit wiegen, aber als ich sah, dass das Kondom zerrissen war und wie ein kleiner Ring auf meinem feucht glänzenden Schwanz hing, da ging es nicht mehr. Ich drehte mich um, setzte mich auf, zog das Gummi runter, wischte mich ab. Marta küsste meinen Rücken, fasste in meinen Nacken. Aber es ging nicht weiter. Ich legte mich hin und nahm sie in den Arm, streichelte ihre Stirn und sie steckte mir einen Finger ins Ohr.
Martas Hand liegt auf der Brust des DJs, sie redet kurz mit ihm, er nickt, dann wird die Musik leise. Sie will laut und deutlich sprechen, damit alle sie hören, aber die Worte kommen nur mühsam aus ihrem Mund. Der DJ dreht noch leiser, sie sieht ihn scharf an, er dreht wieder auf.
»Wir spielen jetzt!«, ruft sie. »Ich muss euch Saufspiele zeigen, norddeutsche Saufspiele!« Sie klatscht vor Freude in die Hände und präsentiert, was sie sich ausgedacht hat.
»Snökkelsnördrammen«, sagt Marta und das ist natürlich völliger Quatsch. »Man sitzt im Kreis«, erklärt sie ihre Regeln, »einer gesteht was, und jeder, der so was Ähnliches auch schon gemacht hat, muss ein kleines Glas Eierlikör trinken, ohne dass er was sagt.
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