Gestohlene Leidenschaft
das hatte nichts mit der Größe der Insel zu tun.“
„Womit dann?“
„Mit den Bewohnern.“
„Also mit deinem Vater.“
„Ja. Außerdem habe ich mich mit meinem Bruder nicht verstanden.“
„Wieso nicht?“
„Ammar war der Erstgeborene, und mein Vater hat ihn schon früh zu seinem Nachfolger geformt und ziemlich hart angepackt. Wahrscheinlich brauchte Ammar jemanden, an dem er seinen Frust ablassen konnte. Das war ich. Darum war ich fast froh, schließlich aufs Internat abgeschoben zu werden.“
„Und wie war das Verhältnis zu deiner Schwester?“, fragte Grace.
Khalis zuckte fast unmerklich zusammen. „Sie hat mir gefehlt“, antwortete er leise. „Und ich bin sicher, dass sie sich tatsächlich eingesperrt gefühlt hat. Mein Vater hielt es für sinnlos, einem Mädchen eine gute Ausbildung zu ermöglichen und stellte eine absolut unfähige Gouvernante ein. Jamilah hatte nie die Möglichkeiten, die Ammar und mir gegeben wurden. Vielleicht hätte sie sie gehabt, wenn …“ Er verstummte abrupt und schüttelte traurig den Kopf. „Ach, lassen wir die alten Geschichten.“
Grace schwieg einen Moment, damit Khalis sich wieder fassen konnte. Doch eines musste sie noch wissen. „Meinst du, der Hubschrauberabsturz war ein Unfall?“
„Schwer zu sagen. Mein Vater hatte viele Feinde. Es ist durchaus vorstellbar, dass es Sabotage war und jemand sich rächen wollte. Menschen wie mein Vater sterben selten friedlich in ihrem Bett.“
Beim ungerührten Klang seiner Stimme lief Grace ein kalter Schauer über den Rücken. Diese Gefühllosigkeit passte überhaupt nicht zu dem sonst so fürsorglichen Mann. „Irgendwie klingst du herzlos“, sagte sie daher leise.
„ Ich klinge herzlos?“ Er lachte harsch. „Gut, dass du meinen Vater nie kennengelernt hast.“
Sie konnte ihm nicht erklären, warum seine Haltung zu seinem Vater sie so beunruhigte. Sie kannte die Gerüchte über Balkri Tannous. Angeblich hatte er Bestechungsgelder kassiert und war in illegale Machenschaften verstrickt gewesen. Ihr war unbegreiflich, warum sie immer wieder versuchte, diesen Verbrecher zu verteidigen.
Weil du dich selbst schuldig gemacht hast und Vergebung möchtest. Genau wie er.
„Wie hast du es herausgefunden?“, erkundigte sie sich. Khalis wusste sofort, was sie meinte.
„Ich war sechzehn und gerade auf der Insel eingetroffen, um die Sommerferien hier zu verbringen. In dem Schuljahr hatte ich den Preis für Mathematik gewonnen, was ich meinem Vater sofort stolz berichten wollte. Also machte ich mich auf die Suche nach ihm.“ Khalis verstummte. Die Erinnerung an damals schmerzte ihn sichtbar. „Er war im Arbeitszimmer und telefonierte. Mit einer Handbewegung gab er mir zu verstehen, mich zu setzen. Also hörte ich das Telefongespräch mit an. Zuerst wusste ich nicht, worum es ging. Er sagte etwas von Geld und forderte mehr. Ich dachte, es wäre etwas Geschäftliches. Doch dann wurde er wütend. ‚Du weißt, was du zu tun hast, wenn er sich weigert. Dieses Mal lässt du ihn nicht ungeschoren davonkommen!‘, brüllte er in den Hörer. Das waren Drohungen, die ich aus der Schule kannte. Aber doch nicht von meinem Vater! Ich war völlig perplex und fragte ihn nach dem Gespräch halb im Scherz: ‚Das klang ja fast, als wolltest du jemanden verprügeln lassen, Papa.‘ Mein Vater musterte mich mit hartem Blick und antwortete knapp: ‚Genau.‘“
Khalis lenkte den Jeep auf einen flachen Strandabschnitt und schaltete den Motor aus. In der plötzlichen Stille waren nur das Geräusch der sich am Ufer brechenden Wellen und das Kreischen von Möwen zu hören.
„Und was passierte dann?“, fragte Grace.
Er hob die Schultern. „Ich war natürlich schockiert. Genau weiß ich nicht mehr, was ich gesagt habe. Das könne er doch nicht machen oder so ähnlich muss der Wortlaut wohl gewesen sein. Mein Vater stand auf, kam um den Schreibtisch herum und schlug mir hart ins Gesicht.“ Khalis zeigte auf eine kleine weiße Narbe in seinem Mundwinkel. „Die hat sein Ring hinterlassen.“
„Das ist ja entsetzlich.“ Grace versagte fast die Stimme.
„So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Immerhin war ich schon sechzehn, also fast erwachsen. Und er hat mich nie wieder geschlagen. Ich war nur so schockiert, weil es vorher noch nie passiert war. Ich hing sehr an meinem Vater, und das gefiel ihm. Ammar hat es wesentlich schwerer gehabt. Mich beachtete mein Vater kaum, obwohl ich mir das immer gewünscht hatte. Bis zu dem Tag,
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