Gestohlene Leidenschaft
stumm den Kopf.
„Was ist los, Grace?“, fragte er leicht gereizt. „Bist du verheiratet?“
Sie sah auf. „Nicht mehr.“
„Dann bist du geschieden?“
„Ja.“
„Aber dann verstehe ich nicht, wieso …“
„Es ist ziemlich kompliziert.“
„Das habe ich mir schon gedacht.“
Sie wandte sich ab und schlang schützend die Arme um sich. „Ich kann mich nicht auf dich einlassen, Khalis. Meine Ehe war … unglücklich“, erklärte sie leise. „Ich bin nicht … ich kann nicht …“ Ihre Stimme versagte.
„Was müsste ich tun, damit du mir vertraust, Grace?“
„Ich weiß es nicht“, wisperte sie. Er war so behutsam, fürsorglich und geduldig. Wie gern hätte sie sich ihm anvertraut. „Aber bemüh dich nicht“, fügte sie traurig hinzu. „Ich wünschte, es wäre anders, aber eine Beziehung mit dir kommt sowieso nicht infrage.“ Zu spät fiel ihr ein, dass von einer Beziehung gar nicht die Rede gewesen war. Beziehung bedeutete nicht nur Intimität, sondern auch, dass man füreinander da war. „Und auch keine kurze Affäre“, sagte sie daher schnell und ging fort, bevor er widersprechen konnte.
Wenig später schlüpfte sie durch die Tür und war wieder hinter den hohen Mauern gefangen.
In dieser Nacht schlief Grace kaum. Immer wieder stellte sie sich vor, wie Khalis und sie sich geküsst hatten. Sie träumte sogar davon. Es war wundervoll gewesen und hatte sich so richtig angefühlt. Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Im nächsten Moment wurde sie von Albträumen gepeinigt. Loukas’ vor Wut verzerrtes Gesicht tauchte vor ihr auf. Wie konntest du mir das antun, Grace? schrie er zornig. Wie konntest du mich so hintergehen?
Schweißgebadet und zitternd erwachte sie aus dem Albtraum. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Als es ihr wieder einfiel, stöhnte sie leise und stand auf. Da an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken war, duschte sie kurz, zog sich an und machte sich mitten in der Nacht auf den Weg zum Tresorraum. Im Haus herrschte gespenstische Stille. Grace erschauerte unwillkürlich, ließ sich jedoch nicht von ihrem Plan abbringen, sich mit Arbeit abzulenken.
Nachdenklich betrachtete sie die beiden Renaissancegemälde, die auf einem Stahltisch lagen.
Das Gemälde von Leda und dem Schwan hatte sie bereits gründlich analysiert und als Original erkannt. Jetzt wollte sie sich dem anderen Bild widmen, auch wenn die Darstellung von Leda mit ihren Kindern schmerzvoll für sie war.
Seit Jahrhunderten wurde über dieses Gemälde spekuliert. Leonardo da Vinci hatte mehrere Studien gemalt und Skizzen von Leda, wie sie mit gesenktem Kopf dasaß, umringt von ihren Kindern. Das Gemälde war erheblich ausdruckskräftiger als die Skizzen. Im Gegensatz zu dem anderen Bild war Leda hier sitzend und bekleidet dargestellt. Die sinnliche Verführerin war verborgen, vielleicht sogar vergessen. Zwei ihrer Kinder, Kastor und Pollux, standen hinter ihr – wohlgenährte Kleinkinder, die ihre Hände auf die Schultern der Mutter gelegt hatten. Vielleicht, um sich festzuhalten, vielleicht, um ihre Mutter zu beschützen. Klytämnestra und Helena waren noch Babys und lagen auf Ledas Schoß, die engelsgleichen Gesichter der Mutter zugewandt.
Und wie war Ledas Gesichtsausdruck zu deuten? Traurig? Wehmütig? Oder spiegelte sich verhaltende Freude in ihrer Miene? Sollte sich in dem gesenkten Blick ausdrücken, dass sie bereits um die schrecklichen Ereignisse wusste, die ihr noch bevorstanden? Helena würde einen Krieg auslösen. Kastor kam darin um. Und Klytämnestra verlor ihre Tochter.
Abrupt wandte Grace sich ab. Sie war entschlossener denn je, die noch verbleibenden Analysen zügig durchzuführen. Dann könnte sie Khalis die Expertisen morgen vorlegen und Alhaja verlassen. Und Khalis verlassen. Nur so konnten sie beide vergessen, was gewesen war und wieder zur Tagesordnung übergehen.
Khalis sah auf, als die erschreckend blasse und zerbrechlich wirkende Grace am nächsten Morgen zum Frühstück erschien. Viel Schlaf hatte sie offensichtlich nicht bekommen. Doch sie sah gefasst aus und so anziehend wie eh und je. Sie trug einen engen schwarzen Rock und eine weiße Bluse und hielt einen Schnellhefter in der Hand. Khalis wusste genau, was das bedeutete. Nach dem frustrierenden Ausgang der nächtlichen Strandszene hatte er schon so etwas erwartet. Er lehnte sich zurück, trank einen Schluck Kaffee und harrte der Dinge, die da kamen.
„Ich habe die vorläufigen Analysen der beiden da Vinci-Gemälde
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