Gestohlene Leidenschaft
sich schließlich, als er sich von der Überraschung erholt hatte.
„Keine Ahnung.“ Ammar zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollte der Alte sichergehen, dass nur er einen möglichen Absturz überleben würde. Ich war sicher, dass er als Letzter von Bord gehen würde.“
„Aber er hat es sich anders überlegt.“
„Vater hatte sich verändert“, erklärte Ammar leise. „Er war unheilbar krank. Er hatte Krebs. Die Ärzte haben ihm die Diagnose vor sechs Monaten mitgeteilt. Das hat ihn zum Umdenken veranlasst.“
„Zum Umdenken?“
„Ja. Er wusste, dass er sehr viel falsch gemacht hat. Ich glaube, darum hat er dir den Konzern vererbt. Das Testament hat er erst einen Monat vor seinem Tod geändert. Er hat von dir gesprochen und bedauert, dich so schlecht behandelt zu haben.“ Ammar lächelte traurig. „Und er hat dich bewundert, weil du so viel erreicht hast.“
Das war schwer vorstellbar. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Balkri Tannous ihm ins Gesicht gespuckt und versucht, ihn zu schlagen, als Khalis erklärt hatte, er wollte Jamilah mitnehmen.
„Nur über meine Leiche!“, hatte sein Vater gewütet. Leider war es dann Jamilahs Leiche gewesen.
Trotzdem war Khalis gegangen. Ohne seine Schwester. Der schmerzliche Verlust setzte ihm bis heute zu. Darum wollte er mit seiner Familie nichts mehr zu tun haben und weigerte sich, seinem Vater und seinem Bruder zu vergeben. Sonst hätte er sich nämlich die schmerzliche Frage stellen müssen, ob seine Schwester noch leben könnte, wenn er damals bei ihr geblieben wäre. Oder wenn er eher zurückgekehrt wäre. Oder wenn er sie trotz allem mitgenommen hätte.
„Du hast gerade an Jamilah gedacht“, sagte Ammar ruhig.
Am liebsten wäre Khalis aus dem Zimmer gerannt. Doch der Gedanke an Grace verlieh ihm die Kraft zu bleiben.
„Es war ein Unfall, Khalis. Sie wollte sich nicht umbringen.“
Khalis schloss verzweifelt die Augen. „Woher willst du das wissen?“
„Sie hat es mir gesagt. Sie wollte leben, sie hatte Pläne.“
„Wenn ich zurückgekommen wäre …“
„Du hättest den Unfall nicht verhindern können.“
„Wenn ich geblieben wäre …“
„Du konntest nicht bleiben.“
„Vielleicht doch. Vielleicht hätte ich dann etwas verändern können.“
Ammar legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Das halte ich für höchst unwahrscheinlich, Khalis. Ich bin erst durch den Absturz und Vaters Tod zur Besinnung gekommen. Und Vater hätte sich niemals geändert, wenn er nicht krank geworden wäre. Dich trifft keine Schuld. Du warst nicht für uns verantwortlich. Und auch nicht für Jamilah.“
Das musste Khalis erst einmal verdauen. Schließlich fragte er: „Wie hast du eigentlich überlebt?“
„Ich bin mit dem Fallschirm abgesprungen und ans Ufer einer kleinen Insel geschwommen. Dort gab es Quellwasser. Ich wusste also, dass ich einige Tage überleben konnte. Beim Aufprall habe ich mir die Schulter ausgekugelt, aber ich konnte sie wieder einrenken. Nach sechs Tagen haben Fischer auf mein Winken reagiert und mich in ein Dorf an der tunesischen Küste gebracht. Ich bekam Fieber und war lange bewusstlos. Erst Wochen nach dem Absturz war ich wieder in der Lage, einigermaßen klar zu denken. Ich wusste, dass ich mit dir reden musste, und bin nach San Francisco geflogen. Dort sagte man mir, du wärst in Rom.“
„Woher wusstest du von meiner Firma?“
„Weil ich deinen Weg von Anfang an verfolgt habe“, erklärte Ammar. „Ich weiß, dass ich dir ein schlechter Bruder gewesen bin.“
Khalis hob gleichmütig Schultern. „Normale Rivalität unter Brüdern.“
„Nein, es war viel schlimmer. Das wissen wir beide. Bitte verzeih mir, Khalis.“
Verzweifelt kämpfte Khalis mit sich. Grace wusste, dass er nicht nur Ammar verzeihen musste, sondern auch sich selbst.
Seine Augen brannten. Die Kehle war wie ausgedörrt. Er räusperte sich. „Ich verzeihe dir, Ammar, mein Bruder“, sagte er rau. Und ich verzeihe auch mir selbst.
Ammar strahlte, und die Brüder umarmten sich unbeholfen. Ohne Grace hätte ich das nie geschafft, dachte Khalis und hoffte, auch sie bald wieder in die Arme schließen zu können.
„Fühlt sich gut an“, sagte Ammar. Khalis nickte zustimmend und fragte dann: „Was hast du jetzt vor? Tannous Enterprises sollte eigentlich dir gehören.“
„Nein, Vater hat dir den Konzern überschrieben.“
„Ich will ihn nicht. Du hast dich doch dein ganzes bisheriges Leben lang der Arbeit im Konzern gewidmet, Ammar. Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher