Gestohlene Wahrheit
durchschneidest«, sagte er und drehte sich wieder um. Er schien sich erstaunlicherweise keine Sorgen zu machen, dass eine Frau mit zitternden Händen, die dazu neigte, sich bei der kleinsten Provokation zu übergeben, mit einem Messer mit achtzehn Zentimeter langer Klinge auf ihn losging.
Sie beäugte das riesige Messer noch einige Sekunden lang und flehte stillschweigend darum, dass sie trotz ihrer zitternden Hände einen sauberen Schnitt hinbekam.
»Fängst du jetzt an oder was?«, fragte er und sah weiter in die heruntergekommene Badewanne.
»Ja«
, keuchte sie und versuchte, dabei auch noch ein
Hetz mich nicht!
rüberzubringen. Dann holte sie tief Luft, machte zwei Schritte nach vorn und griff nach dem Saum seines T-Shirts. »Ich gehe alles gerade im Geiste durch.«
Und versuche, nicht schreiend aus der Tür zu rennen.
»Es ist ganz einfach«, meinte er. »Zieh das T-Shirt einfach hoch und zerschneid es.«
Aha. Ganz leicht. Sie schloss kurz die Augen, zog den Stoff dann von seinem Körper weg und schnitt ihn durch, bevor sie ihre Meinung wieder ändern konnte.
Die Klinge glitt durch den Baumwollstoff wie ein heißes Messer durch Butter. Die beiden Hälften des ruinierten T-Shirts fielen zu Boden.
Jetzt konnte sie die rissige Wunde an seiner Schulter deutlich erkennen.
Oh Scheiße.
Sie ließ das Messer fallen und erbrach sich ins Waschbecken. Zweimal.
Mann, sie war so ein Loser. Er wurde angeschossen, und sie übergab sich.
»Du musst mich für ein ziemliches Weichei halten«, meinte sie zu ihm, nachdem sie den Wasserhahn zugedreht und sich den Mund ausgewaschen sowie die Überreste ihrer peinlichen Reaktion weggespült hatte.
Sie schwitzte und versuchte, durch den Mund zu atmen, damit ihr der metallische Geruch seines Bluts nicht in die Nase stieg. Als sie sich streckte, merkte sie, dass er sie zärtlich anlächelte.
»Einige Menschen können so was eben besser ab als andere.«
»Tja, ich gehöre dann wohl eher zu den anderen, was?«
Er griff nach ihrer Hand. »Das ist nichts Schlimmes.«
Sie schnitt eine Grimasse. Es war schlimm, wenn der Mensch, der angeschossen wurde, die Person trösten musste, die vollkommen gesund war.
Dann wappnete sie sich und meinte: »Okay, was jetzt?«
»Du musst das nicht tun. Ich kann das auch selbst machen. So schlimm ist es nicht.«
Nicht so schlimm? Nicht so
schlimm
?
Er hatte ein knapp zwei Zentimeter großes Loch in dem dicken Muskel über dem Schlüsselbein und ein zweieinhalb Zentimeter großes auf der Schulter, und das war nicht schlimm?
Sie hatte es zuvor schon vermutet, und jetzt war sie sich sicher, dass er verrückt war. Ganz bestimmt. Es konnte nicht anders sein. Geistig gesunde Menschen gingen nicht so lässig mit Löchern in ihrem Körper um, insbesondere mit derart großen und blutigen.
»Es ist leichter, wenn ich dir helfe«, sagte sie zu dem verrückten Mann auf der Toilette. »Also sag mir, was ich als Nächstes tun soll.«
Er grinste sie erneut an, und sie konnte nur den Kopf schütteln. Er lächelte nur selten, aber ausgerechnet jetzt tat er es.
»In der kleineren Satteltasche ist ein Verbandskasten. Nimm das Desinfektionsmittel heraus, die Quetschflasche, das blutstillende Mittel und die Bandagen.«
Sie nickte und hastete nach nebenan, um alles zu holen.
»Darin ist auch eine Ersatzzahnbürste, die du benutzen kannst«, rief er ihr hinterher.
Oh, perfekt. Er saß da und blutete vor sich hin, und was war seine größte Sorge? Dass sie sich vielleicht die Zähne putzen wollte, nachdem sie sich übergeben hatte. Diese Nacht war anfangs furchterregend und bizarr gewesen, jetzt war sie jedoch völlig unglaublich. So langsam war sie davon überzeugt, dass sie zu einer Figur in einer Folge von
Twilight Zone
geworden war.
Als sie alles gefunden und auch noch einige Schmerzmittel in der Hand hatte, kehrte sie ins Badezimmer zurück.
Doch dann überlegte sie es sich anders, drehte noch einmal um und nahm auch die Zahnbürste und die kleine Tube Zahnpasta mit.
Wenn sie ihm dabei geholfen hatte, die Wunde zu säubern und zu verbinden, dann, und erst dann, würde sie sich die Zähne putzen.
Unfassbar! Sie war überfallen, verwanzt, überwacht und von einem Attentäter beschossen worden, und jetzt marschierte sie in dieses ekelerregende Badezimmer und würde eine Schusswunde verarzten. Sie warf einen Blick zu dem verstummten singenden Fisch und schüttelte den Kopf.
Don’t worry, be happy
. Genau.
Sie ging zurück ins Bad und fürchtete sich
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