Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
ebenso unangenehmes Gefühl. Was sollte sie nur tun? Wie reagieren, wie der Enkelin Mut machen? Einfach sagen: »Ich finde die Geschichte gut«?
Zu wenig! Eine Literatin wollte mehr hören, wollte wissen, ob ihre Botschaft rübergekommen war. Aber welche Botschaft sollte die unbedarfte Leserin erreichen? »Dio mio!« Mamma Carlotta wusste es nicht.
Bevor Carolin zu ihrem Kurs in kreativem Schreiben aufgebrochen war, hatte sie ihrer Nonna noch einmal ihre Kurzgeschichte ans Herz gelegt, hatte sie gebeten, auf die Einhaltung der Perspektive zu achten, auf den Spannungsbogen, auf eine versteckte Aussage in einem mehrdeutigen Wort, auf Interpretationsmöglichkeiten des Lesers, die nach dem letzten Satz in Gang kommen sollten. »Ich will keine Meinung festlegen, sondern dem Leser die Chance geben, zu einer eigenen zu kommen.«
Mamma Carlotta stützte den Kopf auf. Noch nie im Leben hatte sie sich derart überfordert gefühlt. Was sollte sie Carolin sagen, wenn sie von ihrem Kurs zurückkam? Das Kind durfte nicht noch einmal gekränkt werden und auf keinen Fall den Eindruck haben, ihre Nonna sei nicht an ihrem Talent interessiert. Erst recht sollte Carolin nicht zu der Ansicht kommen, ihre Großmutter sei es nicht würdig, die literarischen Werke ihrer Enkelin zu begutachten.
Carlotta erhob sich und schob Carolins Kurzgeschichte in ihre Handtasche. Tove Griess und Fietje Tiensch waren sicherlich keine Experten in Sachen schöne Künste, aber ein Gespräch mit ihnen würde vielleicht dennoch von Nutzen sein.
Da niemand zu Hause war, konnte auch niemand erfahren, dass sie sich mit dem zwielichtigen Besitzer der Imbissstube und dem Strandwärter besprach, den sonst keiner eines Blickes würdigte. Erik war natürlich strikt dagegen, dass sie Käptens Kajüte betrat. Das war verständlich, hatte er doch mehr als einmal dafür gesorgt, dass Tove hinter Schloss und Riegel landete, und auch Fietje hatte manche Nacht in Polizeigewahrsam verbracht, wenn er mal wieder dabei erwischt worden war, wie er in fremde Fenster sah und das Leben anderer beobachtete, an dem er selbst nicht mehr teilhatte.
Mamma Carlotta tauschte ihre graue Bluse gegen eine gelbe, die über und über mit rotem Klatschmohn bedruckt war, und legte das einzige Schmuckstück an, das sie je besessen hatte. Ihre Patentante hatte ihr das Bettelarmband mit einem einzigen Anhänger zur Erstkommunion geschenkt, und seit Dinos Tod hatte es unbeachtet in ihrem Nähkästchen gelegen. Für die Syltreise hatte sie es hervorgeholt und sich an den vielen Anhängern gefreut, die im Lauf der Jahre hinzugekommen waren, von dem jeder eine kleine Geschichte erzählte.
»Signora!« Ihr Herz erwärmte sich, als sie Toves ehrliche Freude sah. Er ließ die Fischfrikadellen im Stich, die gerade gewendet werden sollten, und kam um die Theke herum. »Sie sind wieder auf Sylt?« Er umfing sie mit seinen starken, dicht behaarten Armen, aus denen Mamma Carlotta sich schleunigst befreite. Nicht auszudenken, wenn einer der Gäste in Käptens Kajüte zu Eriks Bekannten gehörte und ihm später erzählte, dass er seine Schwiegermutter in einer Umarmung mit Tove Griess gesehen hatte!
Zum Glück erklärte der Kunde, der vor der Theke wartete, gerade in diesem Augenblick, dass er keine verbrannten Fischfrikadellen akzeptieren werde. Das brachte Tove zurück an seinen Grill und rettete sein Fischfrikadellengeschäft, wenn auch nur knapp. Während der nächste Kunde seinen Kartoffelsalat nach draußen trug, wo Tove ein paar Stehtische aufgestellt hatte, verschwand er in dem kleinen Raum hinter der Theke und kam kurz darauf mit einer Flasche Rotwein zurück.
»Der Wein aus Montepulciano«, strahlte er. »Extra für Sie eingelagert!«
Mamma Carlotta lächelte glücklich. Ja, so stellte sie sich ein gelungenes Wiedersehen vor!
»Auf Sylt war nichts los, als Sie wieder nach Italien abgereist waren«, behauptete Tove. »Das Wetter war schlecht, wir hatten häufig Nebel. Die Geschäfte gingen auch nicht gut. Ich war schon drauf und dran, Käptens Kajüte zu schließen. Vierzehn Tage hatte ich im Mai tatsächlich nicht geöffnet.«
»Weil Hauptkommissar Wolf dich eingebuchtet hat, jawoll«, ertönte da von der Tür die Stimme von Fietje Tiensch. »Deine Schlägerei mit dem letzten Gast war ja auch nicht von Pappe.«
»Da war ich im Recht«, knurrte Tove. »Er wollte nicht zahlen. Sollte ich mir das etwa gefallen lassen?«
Carlotta rutschte vom Barhocker, den sie gerade mühsam erklommen hatte,
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