Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
hat, zurückgeben muss? Oder das silberne Rechteck, das …« Erschrocken brach sie ab und warf Carolin einen unsicheren Blick zu, konnte aber dann erleichtert feststellen, dass ihre Enkelin ihr gar nicht zuhörte. Das fehlte noch, dass sie ihr erklären musste, wie sie an das silberne Rechteck gekommen war!
Doch aus der Erleichterung wurde schnell Sorge. Wie blass das Kind war! Hatte sie am Morgen in ihrem grasgrünen T-Shirt noch frisch wie ein sonniger Frühlingstag ausgesehen, so wirkte sie jetzt wie ein nebliger Novemberabend. Bedrückt ihre Miene, grau und schlicht das Shirt, schmucklos die Frisur, der Teint, die Lippen, die Augenlider – alles farblos und unauffällig. In Italien hatte ein Mädchen mit sechzehn längst die Grundlagen des dekorativen Make-ups erlernt. Aber Carolin wollte davon nichts hören.
Vorsichtig zupfte Mamma Carlotta ihr das Haar aus dem Gummiband und war schlagartig beunruhigt, als Carolin sich nicht dagegen wehrte. »Ist was? Geht es dir nicht gut, Carolina?«
Aber ihre Enkelin blickte auf ihre Hände und antwortete nicht. Erst als Mamma Carlotta ein zweites und drittes Mal nachfragte, nickte sie zögernd. »Eigentlich darf ich es dir nicht sagen.«
Mamma Carlotta war fassungslos. »Aber ich bin doch deine Großmutter! Du kannst mir alles sagen. Tutto!«
»Es ist wegen der Vereinbarung, die ich unterschrieben habe«, flüsterte sie und sah ihre Nonna ängstlich an. Erst als ihr mehrmals versichert worden war, dass sich jemand, der seiner Großmutter ein Geheimnis anvertraute, trotzdem verschwiegen nennen durfte, ergänzte sie kaum hörbar: »Ich habe was ganz Merkwürdiges entdeckt.«
»Sag’s mir! Was ist es?« Auch Mamma Carlotta flüsterte, weil die Brisanz es zu erfordern schien.
»Als ich mit der Arbeit bei Gero Fürst fertig war, bin ich noch geblieben«, begann Carolin stockend zu erzählen. »Ich habe in seinem Roman gelesen. Die Kapitel, die er in den letzten zwei, drei Tagen geschrieben hat.«
»Hat er dir das verboten?«
Carolin schüttelte hilflos den Kopf. Und wieder flüsterte sie, als hätte sie Angst vor der lauten Wahrheit. »Ich wollte nur seinen Stil studieren, den Sprachrhythmus, von dem du mir erzählt hast. Mehr nicht! Ehrlich!«
»Was ist daran so schlimm?«
»Gero Fürst hat etwas Schreckliches beschrieben«, flüsterte Carolin und hatte plötzlich Tränen in den Augen.
Mamma Carlotta fühlte trotz der Hitze eine Gänsehaut über ihre Arme rieseln. »Etwas Unanständiges? Oder etwas Grausames?«
»Einen Mord«, gab Carolin kaum hörbar zurück. »Das Opfer ist eine alleinstehende Frau, die in ihrem Bett erschlagen wird. Kein Raubmord! In ihrem Haus ist alles an seinem Platz. Die Mörderin hat sich ans Bett der ahnungslosen Frau geschlichen und brutal zugeschlagen. Voller Hass!«
»Dio mio! Hat Gero Fürst das etwa in allen Einzelheiten beschrieben?« Mamma Carlotta schüttelte sich. »Meine arme Carolina!«
Doch Carolin wehrte ab. »Das ist nicht das Problem. Aber – die Frau wohnt in einem Urlaubsort. Sie ist vor Jahren auf dem Aktienmarkt reich geworden und hat es seitdem nicht mehr nötig zu arbeiten.«
»Du willst sagen – Gero Fürst hat …« Mama Carlottas Stimme versagte, sie griff nach einem Geschirrtuch, mit dem sie sich den Schweiß von der Stirn wischte. Dann erst konnte sie den Satz vollenden: »Gero Fürst hat den Mord an Magdalena Feddersen beschrieben?«
Carolin nickte und starrte ihre Großmutter aus riesigen Augen an.
»Und der Mord an Donata Zöllner? Hast du von dem auch etwas gefunden?«
Carolin schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht.«
Die Stille sickerte durch die Küche, von der Westerlandstraße drang das gleichmäßige Rauschen des Verkehrslärms herüber, in Kemmertöns’ Garten lachte ein Feriengast. Das Schweigen war so dicht, dass nicht einmal Felix’ Schimpfen, das aus dem Wohnzimmer drang, einen Keil hineintreiben konnte. Und die Frage, die Mamma Carlotta schließlich stellte, war kaum hörbar. »Wer hat die Frau in dem Roman umgebracht?«
Nun endlich löste sich die Stille auf. Carolin sagte mit klarer Stimme: »Ich habe Gero Fürst gefragt, doch er wollte es nicht verraten. Das ginge mich nichts an, hat er gesagt. Aber ich habe im Exposé nachgesehen. Die Frau wurde von ihrem leiblichen Kind umgebracht, von ihrer Tochter, die als Baby zur Adoption freigegeben wurde. Sie hat ihre Mutter gehasst, sie konnte ihr nicht verzeihen, dass sie sie weggegeben hat.«
Es war längst dunkel, als sie das
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