Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song
»Wolltest du etwa verschwinden, ohne dich von mir zu verabschieden?«, flüsterte sie ihm zu, und Karl bemerkte die Anspannung hinter ihrem Lächeln. »Ist dir klar, dass du da draußen erfrieren wirst?«
»Vielleicht«, flüsterte Karl zurück. »Aber ich bin zäher, als ich aussehe. Solange ich Sonnenlicht absorbieren kann, kann ich daraus Energie gewinnen. Das ist auf die Dauer zwar nicht besonders gesund, aber ich rechne ohnehin nicht damit, dass meine Lebenserwartung auf Isheimur sehr lang sein wird.«
»Mag sein«, erwiderte Bera. »Aber warte wenigstens noch bis zum Frühjahr.«
Karl schüttelte den Kopf. »Dann wäre die Reise zwar leichter für mich, aber Ragnar könnte mir auch leichter folgen, falls er es sich anders überlegen sollte. Und ich vermute, dass er das irgendwann tun würde. Ich denke, dass es hier mehr um Macht als um Ehre geht.«
»Vielleicht hast du recht, aber wie lange, glaubst du, kannst du dort draußen überleben, wenn du völlig auf dich allein gestellt bist? Denke nach, Karl! Wir haben gerade erst Frühherbst, und verglichen mit dem tiefsten Winter ist es jetzt noch relativ warm. Du hast keine Ahnung, wie kalt und lebensfeindlich es im Winter wird. Wenn dir die Nase läuft, gefriert dir der Rotz an der Oberlippe, und wenn du ihn wegwischst, reißt du dir dabei die Haut ab.«
»Ich gebe dir in allem recht, was du sagst, aber ich muss es einfach versuchen. Ich darf mich nicht mit dieser Situation abfinden und mich zurücklehnen, bis ich irgendwann sterbe – und bis zum Frühjahr zu warten wäre der erste Schritt auf diesem Weg.«
»Dann werde ich dich begleiten.«
»Bist du verrückt geworden?« Karl vergaß einen Moment lang zu flüstern, und Bera legte ihm eine Hand, die schwach nach vergorenem Wein roch, auf die Lippen.
»Ragnar würde mir vorwerfen, ich hätte dich entführt«, sagte er, als sie die Hand zurückzog.
Sie zuckte die Achseln. »Sollte uns irgendjemand aufhalten, werde ich behaupten, dass du ein Seher bist und ich deine Führerin auf einer Pilgerreise bin.«
»Ist das legal?«
»Ich habe nicht die leiseste verdammte Ahnung!«, flüsterte Bera. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Lass es uns herausfinden!«
Trotz seiner Anspannung grinste er zurück. Irgendet was zu tun, ganz gleich, wie verrückt es auch sein mochte, war immer noch besser, als tatenlos herumzusitzen und die Tage zu zählen, bis Lisane ihr Kind zur Welt brachte.
»Warte hier eine Weile«, wisperte Bera. »Ich werde die Küche plündern.«
»Kann ich auch irgendwas tun?«
Bera schüttelte den Kopf, doch dann weiteten sich ihre Augen. »Ich habe eine Idee. Du holst das Essen, ich besorg ein paar Taschen auf dem Weg durch den Vorraum. Stopf so viel in sie rein, wie hineinpasst. Los!« Sie ergriff seine Hand, zog ihn mit sich ins Haus und drückte seinen Kopf nach unten, damit er ihn sich nicht an dem niedrigen Türrahmen stieß. Ihre Finger glitten an seinem noch immer haarlosen glatten Schädel ab, ihr Atem strich warm über sein Ohr. »Beweg dich ganz, ganz langsam. Pass bei jedem Schritt auf. Du darfst unter gar keinen Umständen über irgendetwas oder irgendjemanden stolpern und diese betrunkenen Wichte aufwecken!«
Die nächste halbe Stunde entwickelte sich zu einem wahren Albtraum. Zuerst kramte Bera im Durcheinander der Eingangshalle herum und hielt schließlich triumphierend zwei Segeltuchbeutel in die Höhe. Danach mussten sie durch den Hauptraum schleichen, in dem die Hörigen und die Kinder dicht an dicht gedrängt schliefen. Karl nahm an, dass sich die Erwachsenen bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hatten und er deshalb höchstens Gefahr lief, eins der Kinder zu wecken.
Bera zog seinen Kopf dicht zu sich heran, bis sie ihm direkt ins Ohr hauchen konnte. »Stopf jetzt den ersten Beutel voll, während ich die Karten aus meinem Zimmer hole. Wenn der Beutel voll ist, nehme ich ihn mit raus, und du füllst den zweiten.«
Nachdem sie verschwunden war, durchsuchte Karl die Vorratsschränke nach Trockenfleisch, Brot, Obst und Gemüse. Er fand einen Laib Käse und einige von diesen Beeren, die anfangs herb schmeckten, bevor sie plötzlich ihre Süße entfalteten. Es gab ein paar uralte Kühlschränke im Haus, die immer wieder ausfielen, aber aufgrund des kalten Klimas hielten Lebensmittel ohnehin länger als bei normalen Temperaturen. Trotzdem war es sinnvoller, getrocknete und eingepökelte Vorräte statt gefrorene Lebensmittel mitzunehmen, bei denen die Gefahr bestand, dass sie
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