Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song

Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song

Titel: Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Harvey
Vom Netzwerk:
ihrem Nachthemd gelöst hatte, um den Finger gewickelt, das Gesicht weißer als die Weiden nach einem Schneesturm. Sie biss sich auf die Unterlippe.
    Ragnar sah, dass sie zitterte. »Was ist los? Spuck es schon aus, Mädchen.«
    »Der … äh … der Fremde … Allman … er ist verschwunden.« Sie wich einen Schritt zurück.
    Ein schweres Gewicht schien sich auf Ragnar herabzusenken. Er schloss die Augen, und seine gute Laune verflog, seine Stimmung passte sich seinem Kater an. Doch trotz der Wut, die in ihm zu brodeln begann, zwang er sich, nicht die Stimme zu heben. Er würde sich nicht von seinem Zorn mitreißen lassen. Diesmal nicht. Nicht die Beherrschung verlieren. »Wer … hat heute Morgen Wachdienst gehabt?«
    Hilda antwortete nicht sofort. Ragnar wollte die Frage schon wiederholen, was seinen Zorn noch weiter anfachte, als sie leise sagte: »Yngvar.« Dass sie Yngis vollständigen Namen verwendete, verriet Ragnar, dass sie genau wusste, welche furchtbaren Konsequenzen mit seiner Frage verbunden waren.
    »Bring ihn in mein Arbeitszimmer!«, befahl er.
    Er zog sich schnell an, schlüpfte in seine Zeremonialrobe und stieg die Treppe hinunter.
    Hilda blieb länger fort, als es nötig gewesen war, und der Druck in Ragnars Schädel wurde immer stärker. Er nahm sein Schwert Witwenmacher von der Wand, wo es seit dem Sommermarktfest gehangen hatte, und wühlte im Kleiderschrank herum, bis er den ledernen Abziehriemen fand. Dann begann er langsam und rhythmisch, die Schwertklinge zu schärfen, wobei er tief durch die Nase ein und zum Mund wieder ausatmete und versuchte, das in seinem Inneren lodernde Feuer im Zaum zu halten.
    Schließlich kehrte Hilda mit Yngvar zurück, flankiert von Arnbjorn und Thorir.
    Yngi hatte die Augen weit aufgerissen. Sein Atem ging schnell und keuchend. Ragnar fragte sich, was Hilda ihm gesagt hatte. Vermutlich etwas so Einfaches wie: »Der Gothi will dich sprechen … Du steckst in ziemlichen Schwierigkeiten.«
    »Yngvar«, begann Ragnar, »der Utlander ist mit Bera geflohen.« Witwenmacher erzeugte durchdringende scha bende Geräusche, während der straff gespannte Lederriemen auf und ab über die Klinge fuhr. Fftt, fftt.
    »Ich … ich habe gedacht, du hättest ihn freigelassen«, stotterte Yngi.
    Ragnar starrte ihn an. Fftt, fftt, fftt. »Warum hätte ich das tun sollen, Junge? Habe ich dir das etwa gesagt? Du hattest Wachdienst …«
    »Thorir hat gesagt, er würde meine Schicht übernehmen!«, protestierte Yngi.
    »Ich habe nichts dergleichen gesagt!«, rief Thorir von der Tür her.
    »Versuch nicht, deine Pflichtvergessenheit zu entschuldigen, indem du mich anlügst, Yngvar.« Der Lederriemen schabte immer schneller über die Klinge. Anstatt ihn zu beruhigen, fachte das Schärfen Witwenmachers Ragnars Wut nur noch weiter an.
    »Ich lüge nicht, Papa, wirklich nicht!« Yngis Gesicht war gerötet, Schnodder lief ihm aus der Nase. Er wischte ihn fort.
    »In Momenten wie diesem muss ich der Gothi sein. Du hattest die Aufgabe, den Utlander zu bewachen, und du hast zugelassen, dass er mit Bera geflohen ist.«
    Der Raum schien um ihn herum zusammenzuschrump fen und alles außer ihm und Yngi auszuschließen. »Selbst wenn er vielleicht nur unsere Vorräte geschmälert hätte, geht es hier auch um Bera. Du bist schuldig, deine Pflicht vernachlässigt zu haben, und das alles nur, weil du unbedingt dein Haustier füttern musstest.« Ragnar hielt Witwenmacher in der rechten Hand, den Lederriemen in der linken. Er warf das Schwert so in die Luft, dass es eine halbe Drehung vollführte, und fing es mit Daumen und Zeigefinger an der Klinge wieder auf. Die Schneide war so scharf, dass sie seine Haut ritzte und Blut aus dem kleinen Schnitt hervorquoll, doch das war Ragnar egal. Er reichte Thorir das Schwert mit dem Griff voraus. »Nimm es«, sagte er. »Töte den Vogel.«
    »Nein!«, schrie Yngi. »Nicht Render! Das darfst du nicht!«
    Arnbjorn packte Yngis Schultern, doch der schüttelte die Hände seines älteren Bruders ab. Tränen schossen ihm in die Augen.
    Das brachte das Fass für Ragnar endgültig zum Überlaufen. Bis dahin hatte er den Feuerdämon, der in ihm wütete, gerade noch im Zaum halten können, doch der Anblick eines weinenden Mannes hatte ihn schon immer die Beherrschung verlieren lassen. »Hör auf zu heulen!«, presste er mit krächzender Stimme hervor. »Du sollst nicht heulen, Junge!«
    »Ich … kann nicht … anders«, schluchzte Yngi, und da ging die Wut mit Ragnar durch.

Weitere Kostenlose Bücher