Getäuscht - Thriller
Grégoires Haus umschloss, zog sie sich die schwarze Wollmaske übers Gesicht und achtete sorgsam darauf, dass nur Augen und Mund hervorschauten. Vom langen Warten in hockender Position taten ihr die Knie weh.
Seit einer Stunde wartete sie nun schon in ihrem Versteck und hatte beobachtet, wie nacheinander sämtliche Lichter erloschen waren. Danach hatte Grégoire noch eine nächtliche Runde durch den Garten gedreht, eine liegen gebliebene Harke aufgesammelt, das Fahrrad seiner Tochter aufgehoben und eine Zigarette auf der hinteren Veranda geraucht. Er war ein gedrungener Mann mit schmalen Schultern und Bierbauch. Das einzig Auffällige an ihm war seine straffe Körperhaltung, die auf einen militärischen Hintergrund schließen ließ. Emma vermutete, dass der Mann eine Kämpfernatur war und nahm sich vor, ihn zuerst auszuschalten. Das Zirpen der Zikaden durchdrang die nächtliche Stille. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Bach. Trotz dieser Geräusche konnte Emma deutlich hören, wie die Hintertür geschlossen und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Kurz darauf öffnete Grégoire eines der Seitenfenster, damit die am Tag angestaute Wärme aus dem Haus entweichen konnte.
Emma warf einen Blick auf die Uhr. Seitdem Grégoire das letzte Licht ausgeschaltet hatte, waren vierzig Minuten vergangen. Von nun an war alles eine reine Glückssache. Manche Leute fielen direkt nach dem Einschlafen in den Tiefschlaf, andere brauchten Stunden, um zur Ruhe zu kommen. Emma konnte jetzt ebenso gut einbrechen wie später - das Risiko war in beiden Fällen gleich.
Geschmeidig wie eine Katze stand sie auf und kletterte über die Mauer. Im Umkreis von einem Kilometer war weit und breit kein Nachbar; trotzdem rannte sie zum Haus und drückte sich mit dem Rücken an die Wand, wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte. Sie lief einmal um das Haus herum, fand aber keinen Hinweis auf eine Alarmanlage. Die Hintertür war verschlossen. Sie versuchte es gar nicht erst mit dem Dietrich; stattdessen schlich sie zum geöffneten Fenster. Der Fenstersims befand sich ungefähr auf Höhe ihrer Schultern. Vorsichtig löste sie das Fliegengitter, lehnte es gegen die Außenwand und blickte durch das Fenster ins Innere des Hauses.
Das Erdgeschoss schien ein einzelner, durchgehender Raum zu sein, der durch die Anordnung der Möbel in einzelne Bereiche unterteilt war. Ganz in ihrer Nähe standen ein Fernseher, ein Sofa und zwei Sessel. Rechts war eine Essecke. Die Treppe zum Obergeschoss lag in der Mitte des Raumes und versperrte ihr den Blick auf den hinteren Teil des Erdgeschosses. Emma vermutete, dass dort die Küche war, die man auch durch den Hinterausgang betreten konnte, durch den Grégoire zurück ins Haus gegangen war, nachdem er seine Zigarette aufgeraucht hatte.
Mit angehaltenem Atem lauschte Emma auf irgendein Geräusch im Haus.
Es war mucksmäuschenstill.
Sie holte tief Luft, zog sich auf den Fenstersims und schwang die Beine durchs Fenster. Der Fußboden bestand aus alten, verzogenen Holzdielen. Emma ließ sich behutsam auf den Boden gleiten und verlagerte ihr Gewicht vorsichtig vom linken auf den rechten Fuß. Die Dielen knarrten. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sie unter dem Fenster ab. Der Trick bestand darin, sich möglichst rasch durch die Zimmer zu bewegen. Alles musste schnell gehen. Man durfte keine Sekunde zögern. Für überflüssige Gedanken und Zweifel blieb keine Zeit.
Emma durchquerte das Wohnzimmer und stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoss, wobei sie auf Zehenspitzen immer zwei Stufen nahm. In der rechten Hand hielt sie den Elektroschocker, in der linken die Handschellen. Auf ihrem Unterarm klebten vorbereitete Streifen vom Isolierband. Ihre Tasche mit dem Arbeitswerkzeug hatte sie sich auf den Rücken geschnallt.
Sie erreichte das Ende der Treppe und ging weiter, ohne innezuhalten. Die Decke war ziemlich niedrig, der Flur kurz und schmal. Die Türen auf beiden Seiten standen offen. Emma erinnerte sich daran, dass sie das Nachtlicht auf der Ostseite des Hauses gesehen hatte, also auf der rechten Seite des Flurs. Das Schlafzimmer von Grégoire und seiner Frau musste sich demnach links befinden.
Emma verharrte einen Moment im Türrahmen und sah sich im Zimmer um. Grégoire lag auf dem Rücken, schlief tief und fest und schnarchte leise mit geöffnetem Mund. Seine Frau lag neben ihm auf der Seite und schien ebenfalls zu schlafen. Emma ging auf Grégoires Bettseite, drückte ihm den Elektroschocker auf die
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