Getäuscht - Thriller
sind. Selbst wenn es Shvets gelingen würde, die Steuerung des Reaktors zu manipulieren, würde es mindestens eine Stunde dauern, bis es zu einer Reaktion kommt. Sämtliche Alarmsignale in der Steuerungszentrale würden aufleuchten wie bei einem Weihnachtsbaum. Den Mitarbeitern bliebe mehr als genug Zeit, die Kontrolle über die Steuerung zurückzugewinnen.«
»Wie würden Sie denn vorgehen?«
»Würde ich selbst einen solchen Anschlag planen, würde ich so einfach und effektiv wie möglich vorgehen. Ich würde eine Bombe legen. Das wäre die sauberste Lösung. Die gesamte Anlage müsste hermetisch abgeriegelt werden. Sobald ein Kernkraftwerk in die Luft geht, ist das Gebäude wegen der Verstrahlung etwa zwanzig Jahre lang für niemanden mehr zugänglich. Niemand könnte den Vorfall also genauer untersuchen.«
»Aber man kann unmöglich Sprengstoff in ein Kernkraftwerk einschmuggeln. Man könnte sich nicht einmal bis auf einen Kilometer in die Nähe eines Kernkraftwerks wagen, ohne dass sämtliche Alarmanlagen losheulen.«
Der Russe schüttelte den Kopf. »Wenn man es wirklich will, findet sich ein Weg.«
Graves wusste, dass Kempa recht hatte. Das Alarmsystem, das nicht überwunden werden konnte, musste erst noch erfunden werden. Schließlich hatte Emma Ransom Russells Alarmanlage ausgetrickst und obendrein einen Weg gefunden, unbemerkt in das Regierungsgebäude in der Victoria Street einzudringen. Graves nahm sich vor, die Mitarbeiter des Kernkraftwerks auf Herz und Nieren zu überprüfen. Wenn Kempa recht hatte, war auf den gestohlenen Laptops irgendetwas gespeichert, mit dessen Hilfe sich ein Außenstehender Zugang zum Kraftwerk verschaffen konnte, ohne entdeckt zu werden.
»Jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte Kempa. »Wer hat die Autobombe gezündet?«
»Eine Frau mit Namen Emma Ransom, eine ehemalige Agentin der amerikanischen Regierung. Sie arbeitete für einen Geheimdienst mit Namen Division.« Graves reichte dem Russen die Fotos, auf denen Emma an der Kreuzung Victoria Street und Storey's Gate zu sehen war. »Sie war es auch, die Russell getötet hat. Kennen Sie die Frau?«
»Natürlich nicht.«
Graves wusste nicht, ob der Russe log oder die Wahrheit sagte. Aber ihm war nicht entgangen, dass die beiläufige Erwähnung von Division Kempa alarmiert hatte. »Russell ging davon aus, dass der Anschlag innerhalb von sieben Tagen stattfinden sollte. Können Sie mir dazu genauere Informationen liefern?«
»Wenn ich mehr über den Anschlag wüsste, hätte ich Chagall nicht gebeten, mit Russell zu sprechen«, antwortete der Russe aufgebracht. »Russell hat mich ziemlich enttäuscht. Ich hatte gehört, dass er Kontakt zu Personen aus dem unmittelbaren Umfeld von Shvets hat. Aber das war wohl ein Irrtum.«
Graves lächelte gequält. Ein russischer Geheimagent, der einen einfachen Engländer darum bittet, einen russischen Geheimdienstleiter auszuspionieren, und zu allem Überfluss keinen Geringeren als den Chef des FSB. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die Dinge wesentlich einfacher gewesen. »Was ist mit dem Anschlag auf Iwanow?«, fragte Graves. »Es war doch kein Zufall, dass er genau zum Zeitpunkt des Bombenanschlags am Tatort war.«
»Davon gehe ich auch aus. Shvets' Büro ist über alle diplomatischen Auslandsbesuche genauestens informiert. Wahrscheinlich war er sogar an der Planung des Anschlags beteiligt. Es kam ihm bestimmt sehr gelegen, dass er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.«
Graves fuhr sich mit der Hand über den Mund. Ein Anschlag auf ein Atomkraftwerk in Frankreich. Auffälligkeiten in Paris. Ein Team in Bereitschaft. Er hatte den Eindruck, als wäre er zwei kleine Schritte vorangekommen und hätte zugleich einen riesigen Rückschlag erlitten. Er stand kurz davor herauszufinden, auf welches Kernkraftwerk der Anschlag verübt werden sollte, aber was seinen Handlungsspielraum betraf - und nur das zählte wirklich -, war er genauso eingeschränkt wie noch vor einer Stunde. Er bedankte sich bei Kempa und schlug vor, auch zukünftig in Kontakt zu bleiben.
»Viel Glück, Colonel«, sagte der Russe. »Und verlieren Sie keine Zeit. Vergessen Sie nicht, unser Gespräch mit Russell liegt bereits sechs Tage zurück.«
65.
Mitternacht.
Die Lichter im Haus an der Rue Saint-Martin waren bis auf ein Dämmerlicht in einem der oberen Fenster erloschen. Wahrscheinlich ein Nachtlicht im Kinderzimmer, dachte Emma. Hinter der Steinmauer verborgen, die das Grundstück von Jean
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